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 Heinrich Wilthelm: „Don Quijote“, 1955, farbiger Linolschnitt, 76x74 cm, Privatbesitz.
Heinrich Wilthelm: „Don Quijote“, 1955, farbiger Linolschnitt, 76x74 cm, Privatbesitz.

Deutlich mehr als das Fernsehprogramm interessierte mich von Kindesbeinen an das über unserem TV-Gerät hängende Bildnis des Don Quijote. Auf der Wohnzimmercouch sitzend, nahm ich die mich fesselnde Arbeit des Cousins meines Großvaters, Heinrich Wilthelm, immer wieder in Augenschein. Insbesondere faszinierte mich die Gestaltung des Farblinolschnitts, die übereinander gelagerten Farb- und Formschichten, der in dunklen Tönen gefärbte Rahmen und natürlich das Zentrum des Bildes, die abstrakt dargestellte Reiterfigur auf dem Pferd, Don Quijote de la Mancha auf Rosinante. Geisterhaft wirkten die Charakteristika des auf dem Schnitt abgebildeten „Ritters von der traurigen Gestalt“, so sein auf Anregung des Dieners Sancho Panza gewählter Beiname, auf mich, gespenstisch wie auch melancholisch und dennoch heiter-gelöst. Im elterlichen Wohnzimmer stellte ich Vermutungen an, über Herkunft und Bedeutung der Druckgrafik, von der in den 1950er Jahren zweihundert Abzüge von einer amerikanischen Grafik-Vereinigung übernommen wurden. Vor allem die von meiner Mutter erwähnte Tatsache, dass wir einen echten, viel zu früh verstorbenen Künstler in der Familie gehabt hatten, elektrisierte mich und ließ mich nicht mehr los. Über Heinrich Wilthelm, diesen entfernt mit mir verwandten Kunstschaffenden, vernahm ich seit meiner Kindheit vielerlei Geschichten, die vor allem meine Tanten zum besten gaben. Stets fröhlich sei der Schöpfer des Don Quijote gewesen, obgleich er das Grauen des Zweiten Weltkrieges miterlebt und bei einem Bombenangriff auf Krefeld im Jahr 1943 seine erste Ehefrau, Gabriele Pieper, verloren habe. Des Weiteren verbrannte in den Wirren der Jahrhundertkatastrophe das gesamte Frühwerk von Heinrich Wilthelm. Trotz dieser unfassbaren Schicksalsschläge widmete sich der einstige Soldat nach dem Ende des Nazi-Regimes erneut mit aller Macht der Kunst. In den zwei Dekaden, die Wilthelm vor seinem Ableben am 19. November 1969 noch bevorstanden, brachte der Bochumer ein vielfältiges, u.a. Mosaiken, Glasfenster, Linol- und Holzschnitte umfassendes, viel beachtetes Werk hervor.

 

Von 1929 bis 1932 studierte Wilthelm an der Folkwangschule Essen und in den darauffolgenden sieben Jahren an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Hier war er Schüler des vor allem für seine sakrale Kunst sowie Tierskulpturen berühmten Professors Ewald Mataré und in Essen Meisterschüler von Professor Heinrich Nauen, einem bedeutenden Vertreter des „Rheinischen Expressionismus“. Wilthelms verloren gegangenes Frühwerk, welches zum Teil durch Bochumer Zeitungsberichte dokumentiert wurde, zeigte bereits religiöse Inhalte und das Interesse an der Darstellung des Menschen. Im Gegensatz zu seinem ebenfalls als Kunstmaler tätigen Vater Anton Wilthelm (1880 – 1966) beschäftigte er sich nicht mit der Landschaftsmalerei, sondern in erster Linie mit Bildnissen und Porträts. Bereits seine im Alter von vierundzwanzig Jahren erschaffenen Glasfenster des Heiligen Sebastian und des Heiligen Christophorus wurden von Seiten der Lokalpresse gelobt, so in der Westfälischen Volkszeitung vom 27. Juni 1938. In diesem Artikel wird dem „neuen Talent“, welches eigentlich nie Künstler, sondern Gebrauchsgrafiker hatte werden wollen, eine „große Zukunft“ prophezeit. Und in der Tat war der hochgelobte, in frühen Jahren dem Impressionismus nahestehende, damals mit Renoir und Degas verglichene Porträtist, Akt- und Gruppenbildmaler äußerst produktiv, wie Dr. Georg Braumann, ein Gefährte Wilthelms, in seiner informativen Broschüre Heinrich Wilthelm in Bochumer Zeitungsberichten minutiös belegt. Ein Journalist der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) besuchte den eifrig schaffenden „Propagandisten für die Schönheit der Welt und für die Vermenschlichung des Menschen“ 1948 in seinem Atelier, einer „düsteren Dachstube“, und bewunderte Wilthelms ungebrochenen Schaffenswillen. Bereits als dreijähriges Kind habe er mit dem größten Vergnügen gezeichnet, gab Wilthelm zu Protokoll, obwohl er nie Maler werden wollte. An die Folkwangschule Essen begab sich der Fünfundzwanzigjährige mit der festen Absicht, sich zum Werbegrafiker ausbilden zu lassen. Doch reizte ihn das umfangreiche Studium, in dessen Rahmen Wilthelm vielerlei Techniken, wie die Herstellung von Glasfenstern, Mosaiken, Gobelins und Fresken, erlernte. Am Ende seiner Studien gewann Wilthelm schließlich das von der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf ausgelobte Italienreisestipendium. Mehrere Italienaufenthalte sollten später folgen und den vor allem an Leonardos figürlichen Szenarien sowie Anatomiestudien interessierten Künstler inspirieren. Indes minderte die Kriegszeit den künstlerischen Ertrag, wurde Wilthelm doch unmittelbar nach seiner Heimkehr aus Italien im August 1939 Soldat. Nach 1945 sah sich der Überlebende des Infernos gezwungen, in der Landwirtschaft zu arbeiten, bis er 1947 nach Bochum zurückkehrte.

 

In seiner Dachkammer arbeitend, überwindet der sich nun verstärkt religiösen Motiven Zuwendende den Impressionismus, zugunsten eines abstrakteren Gestaltungswillens, bei dem das Gegenständliche jedoch nicht vollständig aufgegeben wird. Primär setzt sich Wilthelm mit farbigen Schnitten auseinander, habe er doch bei Professor Mataré alles dafür notwendige Rüstzeug mitbekommen. In einem Interview von 1951 erwähnt Wilthelm, dass er nacheinander „möglichst kontrastierende Motive“ wähle, und so in seinem Œuvre

religiöse Darstellungen mit Sujets wie dem Don Quijote miteinander kombiniere. Bei dem genannten sowie weiteren Schnitten liege die Schwierigkeit in der Regel darin, „vier, fünf, sechs Farbplatten genau übereinander zu drucken.“ Mit seinen Farbschnitten kündige Wilthelm eine neue Entwicklungsstufe an, heißt es in einem Bericht aus der WAZ vom 9. Oktober 1951. Fortan widmet sich der auf mannigfachen Ebenen Tätige auch Wandbildern und Teppichen, welche von seiner zweiten Ehefrau Gertrud gefertigt werden. Bei einer Ausstellung im Essener Folkwang-Museum präsentiert Wilthelm christliche Themen: Sankt Martin, eine Kreuzigungsgruppe sowie die Flucht nach Ägypten. Ein Rezensent attestiert ihm „archaisierende Unbekümmertheit“, „zeichnerisches Fingerspitzengefühl“ und fühlt sich an die aus der Zeit „nomadisierender Jägerstämme“ stammenden Höhlenbilder von Altamira erinnert. Die Flucht nach Ägypten sowie weitere Blätter werden von der in New York befindlichen International Graphic Arts Society angekauft und verhelfen ihrem Urheber zu über Deutschland hinausgehender Beachtung in den USA. Überaus produktiv gestalten sich die mittleren und späten 1950er Jahre, in denen Wilthelm neben einer Schulbibel auch Kalender illustriert.    

 

Anlässlich des Weihnachtsfestes 1966 variieren verschiedene Bochumer Künstler diesbezüglich christliche Themen, und Heinrich Wilthelm steuert eine Reihe von Blättern religiösen Inhalts bei, „archaisierende, aufs Äußerste verknappende Darstellungen“, welche an die frühe Kunst der Höhlenmalerei gemahnen. Jenes Motiv der Flucht nach Ägypten vergeistige die Heilige Familie zur Synthese aus „archaischem und modernem Ausdruck“, notiert ein Redakteur der WAZ, um fortzufahren: „Erdhafte, verschwimmende Farben wirken, als ob der Wüstenwind die Flüchtenden verschleierte.“ Es gibt allerdings auch Gegenwind, als dieses Werk Wilthelms auf dem Titelblatt der katholischen Zeitschrift Frau und Mutter erscheint. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, bemerkt Wilthelms Tochter Bettina in einem Brief an Dr. Georg Braumann. In Leserbriefen wie auch persönlich an den Künstler gerichteten Schreiben wird kritisiert, dass Maria und Josef nicht als solche zu erkennen seien. Sogar der Blasphemie wird der Schöpfer bezichtigt, sehe doch der Kopf Josefs „wie eine Laterne“ aus, während die Maria „völlig entstellt“ sei

 

Der unsachgemäßen Kritik zum Trotz, bringt Wilthelm jedoch weiterhin ästhetisch äußerst ansprechende Arbeiten hervor, wie etwa die von dem Düsseldorfer Glasbauunternehmen Derix ausgeführten Buntfenster in der Propsteikirche zu Bochum. In Bezug auf diese meisterhaften Darstellungen betont die Presse die „Harmonie von Inhalt, Form und Farbe“ und die „beglückende Klarheit des vergeistigten Stils eines Gläubigen und Künstlers unserer Gegenwart“ (WAZ vom 4. Februar 1959). Im folgenden Jahrzehnt beschäftigen den Künstler religiöse und auch mythologische Themen, es entstehen zahlreiche Farbfenster, Mosaiken sowie Wandbilder. Wilthelms Handschrift hat sich mittlerweile auf so prägnanten Wegen entwickelt, dass ihm ein ureigener Stil bestätigt wird, welcher sich unabhängig von allen modischen Kunstrichtungen die Bahn bricht. Zwei Tage nach der Vollendung seines sechsundfünfzigsten Lebensjahres stirbt der auf dem Höhepunkt seines Schaffens Stehende unerwartet. Über den ein vielfältiges, von antikisierender Einfachheit geprägtes, formvollendetes Werk Hinterlassenden sagt Pater Johannes Peters im Rahmen der Trauerfeier Folgendes: „Heinrich hat in seinem Leben Gott erfahren als Schönheit. In der Substanz seiner Seele hat er sie berührt und geschaut, diese Schönheit, und er hat ihr in seiner Arbeit und in seinem Leben Gestalt gegeben.“