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Zwei potenzielle Kanzler und zwei Königsmacher: Verhandlungsexpert:innen
der Unis Hohenheim und Potsdam beleuchten mögliche Strategien für die
Koalitionsverhandlungen.

Gemeinsame Pressemitteilung der Universitäten Hohenheim und Potsdam

Rot-Grün-Gelb, Schwarz-Grün-Gelb oder doch wieder eine große Koalition:
Die Regierungsbildung wird in den nächsten Wochen nicht einfach werden.
Aus Verhandlungssicht ist das gestrige Wahlergebnis für Prof. Dr. Uta
Herbst von der Universität Potsdam und Prof. Dr. Markus Voeth von der
Universität Hohenheim in Stuttgart eine spannende Situation und eine große
Herausforderung. Zusammen leiten sie die Negotiation Academy Potsdam (NAP)
und beschäftigen sich mit Verhandlungsstrategien und -taktiken, auf die es
jetzt ankommen dürfte. Dies zeigte sich schon gestern Abend, als FDP und
Grüne aktiv den ersten Schachzug machten und verkündeten, dass sie sich
zunächst einmal untereinander abstimmen wollen, bevor sie in Verhandlungen
mit den beiden großen Parteien eintreten.

Das Wahlergebnis vom 26. September 2021 macht verschiedene
Koalitionsoptionen möglich: Eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP,
eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP sowie eine große
Koalition aus SPD und CDU/CSU. Doch wie geht man die komplexen
Verhandlungen am besten an? Sollten beispielsweise die Gespräche parallel
oder nacheinander geführt werden?

Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich die beiden Direktoren der
Negotiation Academy Potsdam (NAP) Prof. Dr. Uta Herbst von der Universität
Potsdam und Prof. Dr. Markus Voeth von der Universität Hohenheim. Aus
ihrer Sicht haben Grüne und FDP dazu noch am Wahlabend einen unerwarteten
Aufschlag gemacht: Anstatt abzuwarten, bis sie von den größeren Parteien
eingeladen werden, wollen sie sich zunächst einmal untereinander
abstimmen. „Das ist ein kluger Schachzug und deutet auf einen
ausgeklügelten Matchplan hin“, sagt Prof. Dr. Voeth von der Universität
Hohenheim.

„Denn in diesen Gesprächen werden Grüne und FDP ausloten, welche Projekte
des jeweils anderen sie NICHT unterstützen werden und welche toleriert
werden können. Mit dieser Liste der gegenseitig tolerierbaren Projekte
werden sie dann in die Gespräche mit den beiden großen Parteien SPD und
CDU/CSU gehen. Damit können sie verhindern, dass der größere Partner sie
gegen den anderen kleineren ausspielt. Im Grunde läuft das damit quasi auf
ein grün-gelbes Regierungsprogramm hinaus. Denn die beiden ‚Kleinen‘
werden so ganz viele ihrer Themen durchsetzen können.“

Prof. Dr. Herbst erklärt den Grund: „Verhandlungstechnisch nutzen Grüne
und FDP nun aus, dass sie jeweils eine Alternative haben, ein so genanntes
BATNA („Best alternative to a negotiated agreement“), SPD und CDU/CSU aber
nicht. Denn beide haben immer eine große Koalition ausgeschlossen – und
das trotz offensichtlicher inhaltlicher Schnittmengen. Das fällt ihnen
jetzt auf die Füße, da sie nun den in den Koalitionsverhandlungen FDP und
Grünen praktisch ausgeliefert sind.“

Welche Möglichkeiten bleiben den beiden großen Parteien nun? Laut Prof.
Dr. Voeth haben SPD und CDU/CSU im Wesentlichen nur folgende Optionen: Zum
einen sollte die SPD, eine „große Koalition“ nicht weiter völlig
ausschließen. Auch wenn möglicherweise keiner Lust dazu hätte, könne die
große Koalition ein wichtiges Hilfsmittel sein, um in den Gesprächen
eigene Themen gegenüber Grünen und FDP durchzusetzen: „Wahlgewinner Olaf
Scholz sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, auf die CDU/CSU
zuzugehen und sie zu Gesprächen über eine Koalition unter seiner Führung
einzuladen, und damit gleichzeitig FDP und Grüne in Zugzwang bringen. Und
wer weiß, vielleicht sind die Schnittmengen zwischen den großen am Ende
doch größer als mit den sehr fordernden kleinen Parteien.“

Für die CDU/CSU sieht Prof. Dr. Herbst nur die Möglichkeit, damit zu
drohen, doch lieber in Opposition zu gehen. Aus ihrer Sicht sei es gestern
weder nötig noch verhandlungstaktisch geschickt gewesen, dass Armin
Laschet gleich angekündigt habe, er wolle eine Koalition unter seiner
Führung bilden: „So hat er den Grünen und der FDP noch mehr Macht gegeben.
Denn sie wissen nun, dass er zu allem bereit ist, um an die Macht zu
kommen.“ Prof. Dr. Markus Voeth ergänzt: „Besser wäre es gewesen, erst mal
abzuwarten. Denn Grüne und FDP brauchen die CDU/CSU, um ihre eigenen
Themen gegenüber der SPD durchzusetzen.“

Seine Empfehlung lautet daher, dass sich die CDU/CSU zurücknehmen und
erstmal die anderen machen lassen. Durch das Ausspielen des BATNAs „Wir
gehen in die Opposition!“ wachse sogar die Chance für CDU/CSU, ihre Themen
durchzusetzen und vielleicht am Ende eine Koalition anzuführen. „Denn wenn
Grüne und FDP die SPD nicht mehr mit ihrer Alternative „Koalition mit der
CDU/CSU“ unter Druck setzen können, wird die SPD ihnen weniger
Zugeständnisse machen. Und das vergrößert wiederum die Chancen der CDU/CSU
doch noch eine Koalition unter eigener Führung zustande zu bringen“,
analysiert Prof. Dr. Uta Herbst.

HINTERGRUND: Negotiation Academy Potsdam (NAP)

Die Negotiation Academy Potsdam (NAP) wurde 2013 an der Universität
Potsdam gegründet und verfügt seit 2016 über einen zweiten Standort an der
Universität Hohenheim. Tätigkeitsfelder der NAP sind die Bereiche
Verhandlungsforschung, Verhandlungsschulung und der Dialog zwischen
Wissenschaft und Praxis. Ihr Leitbild ist ein ganzheitliches Verständnis
von Verhandlungen als Managementprozess, der neben der eigentlichen
Verhandlungsführung vor allem auch vor- und nachgelagerte
Managementaufgaben betrachtet (z.B. Verhandlungsvorbereitung oder
Verhandlungscontrolling).

Zu den Pressemitteilungen der Universität Hohenheim
http://www.uni-hohenheim.de/presse

Text: Stuhlemmer