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Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung wird die
Aufarbeitung der gescheiterten Afghanistanmission sein. Mit einem Resümee
des zwanzigjährigen Bundeswehreinsatzes, einer Fehleranalyse und klaren
Handlungsempfehlungen haben sich die führenden deutschen
Friedensforschungsinstitute heute mit einer öffentlichen Stellungnahme an
die künftige Bundesregierung und den Bundestag gewandt.

30. September 2021. Für Deutschland war die Afghanistan-Intervention ein
gravierender Einschnitt in seine Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik. Sie war der erste Bündnisfall innerhalb der NATO. Und
noch niemals zuvor war die Bundesrepublik in vergleichbarem Ausmaß an
einem Einsatz beteiligt, der zugleich Terrorbekämpfung,
Aufstandsniederschlagung und Staatsaufbau verfolgte – Ziele, die wie sich
im Nachhinein gezeigt hat, zu hochgesteckt waren. Der insgesamt
zwanzigjährige „Krieg gegen den Terror“ kostete mehr als 900.000 Menschen
das Leben. Die materiellen Kosten belaufen sich auf acht Billionen Dollar.

Die neue Bundesregierung wird das krachende Scheitern des Westens am
Hindukusch aufarbeiten müssen. Deutschlands führende
Friedensforschungsinstitute, die einmal jährlich das renommierte
Friedensgutachten herausgeben, haben dazu heute öffentlich Stellung
bezogen. In einer gemeinsamen Sonderstellungnahme erläutern die Leitungen
des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), des Leibniz-
Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, des Instituts
für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Hamburg (IFSH) und
des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-
Essen den Afghanistan-Einsatz. Welche Faktoren haben dazu geführt, dass er
trotz guter Zwischenerfolge letzten Endes gescheitert ist? Und welche
Lehren für künftige Auslandseinsätze ergeben sich daraus für die neue
Bundesregierung?

Afghanistan-Erfahrungen nur bedingt auf andere Missionen übertragbar

Höchste Priorität habe jetzt, die deutsche Beteiligung an internationalen
Einsätzen unabhängig und ressortübergreifend neu zu bewerten, fordern die
Friedensforscher:innen. Künftige Einsätze sollten bereits während der
laufenden Mission kritisch überprüft werden, damit gegebenenfalls
umgesteuert werden kann. Afghanistan sei zwar ein wichtiger Referenzpunkt.
Trotzdem können die dortigen Erfahrungen nicht in Gänze auf andere
Auslandsmissionen übertragen werden. Die Afghanistanmission war einer der
härtesten Fälle für ein international unterstütztes Staatsaufbauprojekt,
die Ausgangsbedingungen dort waren besonders herausfordernd.

Mindestanforderungen für Einsätze beachten

Das Scheitern des Afghanistaneinsatzes bedeute nicht, dass auch andere
Missionen versagen müssen. Langjährige Erfahrungen zeigten, dass
multilaterale Einsätze in Postkonfliktstaaten dort tatsächlich den Frieden
fördern und zum Wiederaufbau des Landes beitragen können. Allerdings
müssen dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, resümieren die
Forscher:innen. Dazu zählten, dass in dem Land ein Mindestmaß an
politischer Stabilität gegeben sei, es eine funktionierende staatliche
Infrastruktur gebe und die lokale Bevölkerung die Stabilisierungs- und
Aufbaumission mittrage.

Risiken des Einsatzes klar benennen, realistische Ziele setzen

Aber selbst unter optimalen Bedingungen sind solche Einsätze immer auch
mit Risiken verbunden. Diese Risiken, die Gefahr eines möglichen
Scheiterns sowie probate Exit-Strategien sollten von vornherein
miteingeplant und klar kommuniziert werden. Diese Strategien sollten auch
Maßnahmen zum verantwortungsvollen Umgang mit Ortskräften einschließen.
Eine weitere Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz ist die Erkenntnis, dass es
ein Fehler war, vorrangig auf den Ausbau des Militärs und Polizeiapparates
in dem Land zu setzen, gleichzeitig aber den zivilen Sektor zu
vernachlässigen. Zudem sollte Deutschland im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus gegenüber illegitimen Akteuren und Praktiken
eine klare Linie vertreten. Vor allem aber sollten die die politischen
Ziele eines Einsatzes realistisch sein und präzise kommuniziert werden,
fordern die Wissenschaftler:innen.

Europäische Fähigkeiten und Fertigkeiten stärken

Nicht nur Deutschland war für den Afghanistan-Einsatz schlecht
vorbereitet, auch die Europäische Union hat als sicherheitspolitischer
Akteur eine schwache Figur abgegeben. Insbesondere die dramatische
Evakuierungsaktion zum Schluss hat einmal mehr die militärische
Abhängigkeit von den USA verdeutlicht. Europa muss dringend seine zivilen
und militärischen Fähigkeiten stärken, appellieren die Herausgeber:innen
des Friedensgutachtens.

Die ausführliche Stellungnahme sowie Analysen und Kapitel, die seit Beginn
des Afghanistan- Einsatzes in den jährlichen Friedensgutachten erschienen
sind, finden Sie auf der Themenseite des Friedensgutachtens unter:
https://friedensgutachten.de/2021/themenseite-afghanistan
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Über das Friedensgutachten

Das Friedensgutachten ist ein gemeinsames Gutachten des Bonn International
Centre for Conflict Studies (BICC), der Hessischen Stiftung Friedens- und
Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Friedensforschung und
Sicherheitspolitik (IFSH) und des Instituts für Entwicklung und Frieden
(INEF) an der Universität Duisburg-Essen. Seit 1987 veröffentlichen die
vier Friedensforschungsinstitute das Friedensgutachten als zentrales
Medium für den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik.
Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Fachgebieten untersuchen darin
internationale Konflikte aus einer friedensstrategischen Perspektive und
bringen dabei unterschiedliche Blickwinkel ein. Mit seinen klaren
Empfehlungen übersetzt das Friedensgutachten wissenschaftliche
Erkenntnisse in praktische Handlungsanweisungen für die Politik.

Die Themen gliedern sich in die fünf jährlich wiederkehrenden Themenfelder
„Bewaffnete Konflikte“, „Nachhaltiger Frieden“, „Rüstungsdynamiken“,
„Institutionelle Friedenssicherung“ und „Transnationale
Sicherheitsrisiken“. Im zusätzlichen Kapitel, „Fokus“, wird ein Thema des
aktuellen Konfliktgeschehens tiefergehend beleuchtet. Das
Friedensgutachten wird von der Deutschen Stiftung Friedensforschung
gefördert.

Das Friedensgutachten 2021 mit dem Titel „Europa kann mehr!“, das am 8.
Juni 2021 auf der Bundespressekonferenz vorgestellt wurde, finden Sie
unter www.friedensgutachten.de.

Die herausgebenden Institute
Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC)
Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität
Hamburg (IFSH)
Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen
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