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Berliner Koalitionsverhandlungen: Prioritäten für sozialen Zusammenhalt
und Chancengerechtigkeit mit und nach Corona

„Sozialer Zusammenhalt stärkt unsere Stadtgesellschaft. Soziale Sicherheit
verstehen wir als Grundbedürfnis aller Berlinerinnen und Berliner.”
Ausgehend von diesen Thesen im Sondierungspapier der sich anbahnenden Rot-
Grün-Roten Koalition in Berlin hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe
von Wissenschaftler_innen der Alice Salomon Hochschule Berlin gemeinsam
mit weiteren Hochschulangehörigen die darin skizzierten Vorhaben im
Bereich Soziales, Gesundheit und Bildung mit einer im Mai 2020
veröffentlichten Stellungnahme von 14 Wissenschaftler_innen zu den Folgen
der Covid19-Pandemie [https://www.ash-berlin.eu/hochschule/presse-und-
newsroom/sage-wissenschaftler-innen-in-gesellschaftspolitischer-

verantwortung/] verglichen. Die Stellungnahme ist in aktualisierter Form
im jüngst publizierten Jubiläumsband „#systemrelevant. 50 Jahre angewandte
SAGE-Wissenschaften an der Alice Salomon Hochschule Berlin” (S. 35 ff.) zu
finden [https://www.dzi.de/wp-content/uploads/2021/10/SozArb_Spezial-
ASH_2021-webneu.pdf
].

Die Wissenschaftlerinnen haben sich mit ihren Vorschlägen an die
Fraktionsspitzen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gewandt.

„Ermutigende Ansätze”

„Das Sondierungspapier enthält eine Reihe ermutigender Ansätze”, so Silke
Gahleitner, Professorin für Klinische Psychologie-Beratung und Therapie an
der ASH Berlin, eine der Herausgeberinnen von #systemrelevant und
Organisatorinnen der Arbeitsgruppe auf dem Hochschultag. „Von der weiteren
Ausformulierung und Umsetzung hängen wichtige Entwicklungen für Berlin im
Bereich Soziales und Bildung, Gesundheit und Chancengerechtigkeit,
Diversity und Nachhaltigkeit ab. Soziales als einen zentralen Teil der
Daseinsvorsorge gilt es deutlicher mit Bildung zusammen zu denken und die
SAGE-Berufe in entsprechenden zentralen Entscheidungen einzubinden.”

So sei begrüßt worden, dass Kinder- und Altersarmut sowie
Wohnungslosigkeit unter den Prioritäten der Koalition im Bereich Soziales
genannt werden. Wichtig sei nun, den aus der Zusammenarbeit von Praxis und
Wissenschaft entstandenen Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und
Obdachlosigkeit tatsächlich in der kommenden Legislatur umzusetzen. Auch
in der ressortübergreifenden Landeskommission zur Prävention von Kinder-
und Familienarmut seien in den letzten Jahren bereits Strategien
entwickelt worden, die noch auf ihre Realisierung warten, so Susanne
Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den
Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit.


Sozialräumliche und partizipative Ansätze ausbauen

Auch der Versuch, über sozialräumliche Ansätze, z. B. von
Stadtteilzentren, Fortschritte zu erzielen, wird positiv bewertet, sollte
aber deutlich beherzter angegangen werden als in vergangenen Wahlperioden,
so die Wissenschaftlerinnen. „Die Anreize für eine niedrigschwellige,
kommunale Gesundheitsförderung müssten über die Zusammenarbeit mit der
sozialen Stadtteilentwicklung und dem Aktionsprogramm Gesundheit verstärkt
werden”, meint Gesine Bär, Professorin für partizipative Ansätze in den
Sozial- und Gesundheitswissenschaften. „Das gilt auch für partizipative
Ansätze, z.B. über Familienforen oder im Bereich der stationären und
ambulanten Kinder- und Jugendhilfe. In den vergangenen Jahren ist hier
konzeptionell Wertvolles erarbeitet, aber selten realisiert worden. Dabei
ist es zielführend, Nutzer_innen stärker einzubeziehen und
Nutzer_innenforschung zu fördern.”

Die Neuentwicklung rund um das Bundesteilhabegesetz (BTHG) böte viele
Möglichkeiten, aber auch zu bearbeitende Konflikte, betont Prof. Dr.
Ulrike Eichinger, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialpädagogik.
Ein Prozess der nutzer_innenorientierten Umsetzung müsste unbedingt noch
in die Prioritätenliste der Koalition aufgenommen werden, damit die
politischen Intentionen, Kosten zu senken, nicht zu Lasten der Qualität
gingen, die ebenfalls verbessert werden soll. Und neben der Entwicklung
nachhaltiger Strategien, um dem eklatanten Fachkräftemangel
entgegenzuwirken, bedürfe es ausfinanzierter qualifizierter Studien- und
Ausbildungsgänge.

Zudem sollte gemeinsam mit den Hochschulen auf gute Arbeits- und
Rahmenbedingungen für Mitarbeitende geachtet werden, so die
Wissenschaftlerinnen. Damit können Qualität gefördert, berufliche
Erfahrungen verarbeitet und  Erschöpfung vorgebeugt werden, wie dies zum
Beispiel das Netzwerk ‚Qualitätsentwicklung in Wissenschaft und Praxis'
(QE-WiPrax) in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz zum Ziel hat. Das
Netzwerk versammelt Expert_innen aus Wissenschaft und Praxis, die daran
beteiligten Einrichtungen engagieren sich für eine demokratische und
solidarische Praxis und Forschung in den Frühen Hilfen und im
Kinderschutz.


Kita und Grundschule zusammendenken

„Der im Sondierungspapier formulierte Ausbau von Kita-Plätzen ist ein
guter Schritt in die richtige Richtung“, erklärt Anja Voss, Professorin im
Studiengang Erziehung und Bildung in der Kindheit und Initiatorin der
Stellungnahme SAGE und Covid 19. „Damit einher geht aber ein Mangel an
qualifiziertem Personal, so dass eine langfristige Bindung von
Mitarbeiter_innen und vor allem die Gewinnung pädagogischer Fachkräfte,
z.B. über eine bessere Bezahlung, Verbesserungen der
Angestelltenverhältnisse, Möglichkeiten zur Spezialisierung, fachliche
Weiterbildungen oder entsprechende Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit
umgesetzt werden müsste.” Die Personalsituation in Kitas müsse aber nicht
nur wegen des aktuellen Fachkräftebedarfs verbessert werden, sondern auch,
um Qualitätsansprüchen an die pädagogische Arbeit gerecht zu werden, so
Voss. Die im Sondierungspapier angeführten `Investitionen im
Bildungsbereich´ sollten auch die Arbeitsbedingungen des pädagogischen
Personals im schulischen Ganztag berücksichtigen, diese werden im
Fachkräftebarometer als prekär beschrieben.

Eine große Chance seien berufsintegrierte
Weiterqualifizierungsmöglichkeiten und die Gewinnung von
hochqualifiziertem Personal, z.B. für Organisationsentwicklungsprozesse
und Fachberatung, neben pädagogischen Fachkräften in Kita, Kinder- und
Jugendhilfe. Zudem gehe es um die Aus-, Weiter- und Fortbildung und –
angesichts des Promotionsrechtes – auch um die Qualifizierung des
akademischen Nachwuchses für Lehre und Forschung. Kita und Grundschule
müssten in der zukünftigen Bildungspolitik des Landes Berlin stärker
zusammengedacht werden. Dies beträfe vor allem den Auf- und Ausbau von
übergreifenden Ausbildungs- und Studienformen, bspw. des
Grundschullehramtes, der Kindheitspädagogik sowie der Sozialen Arbeit. Die
notwendige Multidisziplinarität, wie sie zu Recht für die zukünftigen
Herausforderungen auch seitens der angehenden Berliner Koalition gefordert
wird, stelle sich allerdings nicht von selbst her, sie müsse im Habitus
und in den Erfahrungen der relevanten Berufsgruppen fest verankert sein.
Ein Angebot der ASH Berlin sei ein passender Masterstudiengang mit dem
Schwerpunkt Pädagogik der Kindheit im Grundschulalter. Dieser würde z.B.
für außerunterrichtliche Bildung und Betreuung qualifizieren aber auch für
koordinierende Leitungspositionen und Fachberatung.


Akademisierung von Pflege- und Therapieberufen fördern

Kritisch wurde an der Alice Salomon Hochschule Berlin zur Kenntnis
genommen, dass die Akademisierung der Pflege- und Therapieberufe unerwähnt
bleibt. Gerade Berlin könnte hierbei punkten, immerhin existiert an der
ASH Berlin ein Studiengang für Ergo- und Physiotherapie und an drei
Standorten (ASH Berlin, Charité und Evangelische Hochschule Berlin) sind
primärqualifizierende Pflegestudiengänge eingerichtet. „Diese Angebote
müssen aber sehr viel stärker in der gesellschaftlichen und politischen
Wahrnehmung platziert und wertgeschätzt werden”, so Gudrun Piechotta-
Henze, Professorin für Pflegewissenschaft, Mitautorin der Stellungnahme
SAGE und Covid19. „Dazu zählt auch, dass Studierende eine Finanzierung
erhalten, etwa in Form von Stipendien oder durch monetäre Unterstützungen
von Praxispartnern.” Ausbildung müsse man sich leisten können,
beispielsweise sollten auch Eltern mit Kindern ökonomisch in der Lage
sein, Pflege- und Therapieberufe zu studieren. „Soziale und
Bildungsgerechtigkeit bedeuten, dass motivierte Personen von diesen
Studiengängen nicht ausgeschlossen werden dürfen, weil sie es sich nicht
leisten können, einen Vollzeitstudiengang mit vielen Praxisphasen zu
absolvieren, der eine bezahlte Tätigkeit neben dem Studium nicht erlaubt”,
meint Piechotta-Henze.