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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine könnte massive Auswirkungen auf die
gesamte Weltordnung haben. Nach Ansicht des Direktors des Global and
European Studies Institute der Universität Leipzig, Prof. Dr. Matthias
Middell, ist jetzt bereits eine Zäsur der globalen Ordnung deutlich
sichtbar. Ob Europa allerdings seine Strategie verändert und die Idee
eines kollektiven Sicherheitsregimes aufgibt, sei derzeit noch ebenso
offen wie das Ausmaß des Exodus aus der Ukraine, betont er im Interview.

Welche kurz- und langfristigen Auswirkungen könnte der russische Angriff
auf die Ukraine auf die Weltordnung haben?

Das hängt zunächst einmal davon ab, wie die militärische
Auseinandersetzung ausgeht. Und das ist ja keineswegs sicher, obwohl
Russland erhebliche Kapazitäten herangeführt hat. Putin hat als sein
Kriegsziel die „Entmilitarisierung der Ukraine“ formuliert, also das
Fortbestehen einer Pufferzone, in die die NATO nicht vorrückt und die das
alte Abschreckungsmodell der Nuklearmächte fortzuführen erlaubt, weil
geografischer Abstand auch Sicherheit verspricht. Mit seinem
völkerrechtswidrigen Angriff auf ein souveränes Nachbarland hat er nun
selbst das Erreichen dieses Zieles erschwert oder vielleicht sogar
unmöglich gemacht, denn die ukrainische Führung erhebt immer deutlicher
ihre Forderung nach Eingliederung in westliche Strukturen – der EU und der
NATO. Das westliche Zögern gegenüber diesem Wunsch ist einer
Entschlossenheit gewichen, die ukrainische Führung nun auch militärisch zu
unterstützen und dem Land so bald wie möglich den Weg in westliche
Bündnisse zu öffnen. Damit wird eine langandauernde Konfrontation
wahrscheinlich, die an Muster des Kalten Krieges erinnern mag. Ist damit
das Denken und Handeln in Einflusssphären von Großmächten zurück? Es
umfasst im Prinzip zwei Dimensionen. Die eine betrifft das Eindämmen der
Möglichkeit eines Gegenübers, seine Sphäre auszudehnen, im Zeitalter von
Atomwaffen vor allem mit Instrumenten der Abschreckung. Daneben spielt
Rüstung aber auch eine Rolle im zugrundeliegenden Systemwettstreit, der
die fehlende Attraktivität der anderen Großmacht nicht zuletzt durch eine
Überbietung in den Rüstungsausgaben herbeiführen will. Der
Systemwettstreit, das lehrt der Kalte Krieg, greift auf alle
gesellschaftlichen Teilbereiche aus und hat eine Tendenz, sich mit der
Vision eines Regimechange auf der anderen Seite zu legitimieren – wie lang
dafür auch immer der Zeithorizont sein mag. Ein solches Bild von der
Weltordnung war nie obsolet.

Haben wir es also einfach mit der Rückkehr einer alten Weltordnung zu tun?

So einfach ist es eben nicht: Sich die Welt in den Mustern des Kalten
Krieges vorzustellen, hat eine ganze Reihe von Haken. Den Ersten hat der
kenianische UN-Botschafter noch in der Nacht des Überfalls auf die Ukraine
im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen klar benannt. Das Ignorieren der
Souveränität kleinerer oder schwächerer Staaten durch Großmächte mit
imperialen Nostalgieschüben ist in vielen Weltgegenden seit Langem bekannt
und trifft auf immer größeren Unwillen. Diesmal wird Russland als
diejenige Macht verurteilt, die sich über die Rechte anderer hinwegsetzt,
aber das heißt eben nicht, dass andere Aggressionen darüber vergessen
wären. Der Ruf nach unbedingter Geltung des Völkerrechts, nach Respekt für
die Menschenrechte aller und nach unzweifelhaften Garantien für die
Souveränität aller Staaten ist stärker geworden in den letzten Jahren und
macht die Rückkehr zu einer Politik der Einflusssphären von Großmächten
mindestens schwieriger. Und dies nicht zuletzt, weil die Erfahrung mit den
heißen Kriegen des Kalten Krieges fortwirkt, die eben nicht an der gut
bewaffneten Nahtlinie der Großmächte, sondern oft weit davon entfernt
stattfanden. Über die Wirksamkeit der aktuellen Sanktionen mag noch kein
endgültiger Überblick bestehen, aber dass sie heftige Einschnitte sind,
ist bereits jetzt klar. Sie zeigen der Welt auf jeden Fall eines: Die Rede
vom Niedergang des Westens, wie sie durch den Rückzug aus Kabul 2021
befeuert wurde, ist stark übertrieben. Der Westen hält nach wie vor
außerordentlich wirksame Instrumente zur Steuerung der Weltordnung in den
Händen. Diese sind historisch gewachsen und solange sie funktionieren,
gibt es wenig Grund, über Alternativen nachzudenken. Man sollte aber nicht
überhören, dass wichtige globale Akteure wie China und Indien – derzeit
noch dezent – davor warnen, dieses scharfe Instrument allzu einseitig zu
nutzen. Im Unterschied zum Kalten Krieg ist die Welt komplexer geworden
und eine Reduzierung auf die damalige Bipolarität nicht mehr angemessen.
Für den Moment mag die Schlagzeile „Wir gegen Putin“ hilfreich erscheinen,
aber sie ersetzt keine Analyse einer multipolaren Weltordnung.

Welche Bedeutung haben künftig grenzüberschreitende Verflechtungen?

Sie sind entstanden, bei dem Versuch, Probleme anzugehen, die größer sind
als das Territorium einzelner Länder. Immer komplizierter werdende
Technologien hängen von der Verfügbarkeit von Materialien und Fertigkeiten
ab, die nur an bestimmten Stellen auf der Erde vorkommen, weshalb die
Bedeutung transregionaler Wertschöpfungsketten gewiss nicht abnehmen wird,
um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Das heißt aber auch, dass viele
Brücken, die jetzt aus kriegstaktischen Gründen abgerissen werden müssen,
eines Tages wieder zu errichten sein werden. Für physische Brücken ist das
eine Frage des technischen Geschicks und der verfügbaren Ressourcen, für
kulturelle oder mentale Brücken werden noch schlechter verfügbare
Rohstoffe wie die Anerkennung des Anderen als Gesprächspartner gebraucht.
Die Welt ist fassungslos über den Krieg in den Straßen von Kiew und
Charkiw: 141 von 193 Mitgliedsstaaten haben sich einer UN-Resolution
angeschlossen, die Putins Angriff sehr deutlich verurteilt. Eine Zäsur in
der Weltordnung ist deutlich sichtbar. Ob Europa, das nach 1989 im
Unterschied zu vielen anderen Weltregionen darauf geachtet hat, die
Friedensdividende der damals zu Ende gegangenen Bipolarität nicht in neue
Aufrüstung zu stecken, seine Strategie verändert und die Idee eines
kollektiven Sicherheitsregimes aufgibt, ist derzeit noch offen.

Welche Folgen erwarten Sie in Bezug auf die steigende Zahl von
Flüchtlingen?

Die Zahl der Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Krieg aus der Ukraine
nimmt rapide zu. Die Nachbarländer, in denen bereits viele ukrainische
Familien leben, bereiten sich auf die Ankunft vor. Ob es zu einem
dauerhaften Exodus aus der Ukraine kommt, der die ungünstige demografische
Struktur im Land weiter verändern würde, hängt vom Kriegsverlauf und
Kriegsausgang ab. Die Gefahr, dass gut ausgebildete junge Leute für immer
der Ukraine den Rücken kehren, ist vor allem eine Gefahr für die Ukraine.
Bemerkenswert ist die polnische Hilfs- und Aufnahmebereitschaft, die im
Kontrast zur bisherigen sehr restriktiven Migrationspolitik der Regierung
zu stehen scheint. Hilfsorganisationen haben bereits auf die Gefahr einer
Differenzierung in unterschiedliche Klassen von Flüchtlingen hingewiesen.