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Eine Kieselalge synthetisiert komplizierte Mehrfachzucker (grün), welche von Bakterien abgebaut werden.  S. Vidal-Melgosa
Eine Kieselalge synthetisiert komplizierte Mehrfachzucker (grün), welche von Bakterien abgebaut werden. S. Vidal-Melgosa

Wer sich für den Klimawandel interessiert, wer verstehen will, wie Algen
in Ozeanen Kohlenstoff binden, muss sich mit Zucker beschäftigen. Davon
ist Prof. Dr. Jan-Hendrik Hehemann überzeugt. Der Glykobiochemiker und
seine Arbeitsgruppe in der U Bremen Research Alliance forschen seit Langem
an Mehrfachzuckern, den Polysacchariden – mit bahnbrechenden Ergebnissen.

Jan-Hendrik Hehemann ist ein eher zurückhaltender, seine Worte sorgfältig
abwägender Mensch. Doch wenn er von den jüngsten Forschungsergebnissen
seiner Arbeitsgruppe spricht, sagt er: „Die sind aufregend, da bin ich
richtig stolz drauf.“ Die Forschenden haben in Algen einen Zucker
entdeckt, der Kohlenstoff speichert, in die Tiefsee transportiert und dort
womöglich lagert. „Viele stellen sich Zuckerverbindungen als einfach
verdaubare Energiequellen vor. Jetzt zeigen wir: Es gibt marine
Algenzucker, die von Bakterien und anderen Organismen nicht oder nur
schwer verdaut werden können, sich anreichern und somit Kohlenstoff
binden. Das ist ein Paradigmen-wechsel, das finde ich toll.“

Der 42-Jährige spricht von sulfatiertem Fukan, einem einzelnen
Polysaccharid. Mehrfachzuckerverbindungen werden von Algen mittels
Fotosynthese gebildet. Wie Pflanzen an Land binden Mikroalgen im Meer den
Kohlenstoff aus der Atmosphäre. Der Beitrag der winzigen Einzeller zum
Klima ist enorm: sie erzeugen nicht nur die Hälfte unseres Sauerstoffs,
sie binden auch gut die Hälfte des vom Menschen freigesetzten Kohlenstoffs
und wandeln mehr Kohlendioxid in Biomasse um als die tropischen
Regenwälder.

--- „Von einem Großteil des alljährlich von Menschen freigesetzten
Kohlendioxids wissen wir nicht, wo es abbleibt.“ ---

Die Lebensspanne der Algen allerdings ist kurz. Attackiert von Bakterien
und Enzymen, geben sie den gespeicherten Kohlenstoff in einem ewigen
Kreislauf wieder an die Atmosphäre ab. Manche Partikel allerdings
widerstehen dem Angriff der Bakterien. Sie schließen sich zusammen, werden
dadurch schwer, sinken langsam zum Meeresboden und nehmen den Kohlenstoff
mit. Bei dieser biologischen Pumpe spielt Zucker eine wichtige Rolle.

„Von einem Großteil des alljährlich von Menschen freigesetzten
Kohlendioxids wissen wir nicht, wo es abbleibt“, erläutert der
Grundlagenforscher. „Es wird angenommen, dass viel im Meer verschwindet.
Vielleicht tragen die Mehrfachzuckerverbindungen dazu bei, einen Teil
dieses Kohlenstoffs zu versenken. Denn wenn Moleküle schwierig abzubauen
sind, haben sie ein tolles Potenzial als Kohlenstoffspeicher.“

Hehemann hat sich schon im Leistungskurs Chemie an einer Hamburger Schule
mit Zucker beschäftigt. Ein Großteil der Pflanzenmasse besteht aus Zucker,
in Mikroalgen sind es manchmal 50 Prozent und mehr. „Mehrfachzucker in
Mikroalgen sind komplizierte Moleküle. In ihnen zeigt die Natur ihre
Diversität, es gibt die unterschiedlichsten Verbindungen in einer enorm
großen Zahl“, erklärt der Wissenschaftler seine Faszination an den
Verbindungen. Ein einzelnes Bakterium ist nicht in der Lage, marine
Polysaccharide zu verwerten. Sie tun sich zusammen, bilden Teams und
nutzen die unterschiedlichsten Enzyme, um die vielen verschiedenen
Mehrfachzucker zu verwerten.

Nur folgerichtig war es also, dass sich Hehemann auch in seiner
Doktorarbeit an der Université Pierre et Marie Curie in Paris mit
zuckerspaltenden Enzymen auseinandersetzte. Es folgten weitere Stationen
im Ausland, neun Jahre insgesamt, an der University of Victoria in Kanada
und am Massachusetts Institute of Technology. 2015 schließlich zog es ihn
nach Bremen. Warum? „Weil hier Menschen, die sowohl an Biochemie als auch
an der Meeresforschung interessiert sind, auf hohem Niveau eng und
engagiert zusammenarbeiten.“

Der Wissenschaftler übernahm die Leitung der neu gegründeten
Brückenarbeitsgruppe „Marine Glykobiologie“, die gemeinsam vom Max-Planck-
Institut für Marine  Mikrobiologie (MPIMM) und vom  MARUM – Zentrum für
Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen betrieben wird. Die
beiden Mitglieder der U Bremen Research Alliance arbeiten seit Langem eng
zusammen. „Das Max-Planck-Institut hat eine fantastische mikrobiologische
Expertise, das MARUM besonders viel Erfahrungen mit großskaligen Prozessen
wie der biologischen Kohlenstoffpumpe“, schwärmt Hehemann. Weltweit ist
die Arbeitsgruppe die erste, die Zuckerverbindungen im Meer gezielt
identifiziert und quantifiziert, um somit ihre Rolle im Kohlenstoffkreislauf
zu erfassen.

2016 startete „POMPU“ – ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
gefördertes Projekt, das zum Ausgangspunkt der aktuellen Erkenntnisse
geworden ist. Darin geht es um die alljährlich wiederkehrende Algenblüte
vor Helgoland. In Küsten-regionen aller Weltmeere finden massive
Algenblüten statt, die enormen Mengen an Algen-Biomasse werden durch
marine Bakterien sehr schnell recycelt. Wie aber genau funktioniert dieser
Prozess? Und welche Rolle spielen dabei die Mehrfachzucker?

--- „Wir sind die Ersten, die bestimmte Polysaccharide im Meer
identifizieren und in molekularer Auflösung untersuchen.“ ---

„Das wollten wir verstehen lernen, und zwar im Detail, auf molekularer
Ebene“, erzählt Hehemann. Ein interdisziplinäres Team von Forschenden hat
die vor Helgoland genommenen Wasserproben im Labor untersucht – mit neuen,
innovativen biochemischen Verfahren, die die Arbeitsgruppe speziell
hierfür entwickelt hat. Sie extrahieren die Zuckermoleküle aus den
Wasserproben und identifizieren sie mithilfe von Antikörpern, die die
Strukturen nachweisen können. „Wir sind die Ersten, die bestimmte
Polysaccharide im Meer identifizieren und in molekularer Auflösung
untersuchen“, sagt Hehemann.

In einem zweiten Verfahren nutzen die Forschenden Bakterien und deren
Verdauungsenzyme als Lehrmeister. Jedes Bakterium hat eigene Enzyme, die
die komplexen Zuckerverbindungen in einfache umwandeln. Diese wiederum
sind, ähnlich wie bei einem Diabetes-Test, einfacher zu messen und zu
quantifi-zieren. Die Enzyme stellt die Arbeitsgruppe selbst her. Bakterien
und Enzyme zu verwenden, um den marinen Kohlenstoffkreislauf zu
analysieren – auch das ist ein neuer Ansatz.

„Wir konnten zum Beispiel feststellen, dass ein bestimmtes Polysaccharid,
nämlich Laminarin, in unglaublichen Mengen im Meer produziert wird und
fast zehn Prozent der globalen Kohlendioxidproduktion bindet“, erzählt
Hehemann, der von der DFG inzwischen mit einer Heisenberg-Professur
gefördert wird. Mit ihr unterstützt die Deutsche Forschungsgemeinschaft
exzellente Forschung und außerordentliche Leistungen.

--- „So könnte man etwa auch Regionen identifizieren, die sich besonders
gut als Kohlenstoffspeicher eignen.“ ---

Zuckerverbindungen als Transporteure des Kohlenstoffs in die Tiefsee sind
also identifiziert. Was kommt als Nächstes? Daten möchte Prof. Dr. Jan-
Hendrik Hehemann erheben, möglichst viele Daten. Wie viele Zuckerpartikel
werden produziert, wie viele sinken ab, wie viel Kohlenstoff wird am Boden
des Meeres tatsächlich gespeichert? „Wenn man eine Zahl hat, hat man einen
Referenzpunkt.“ Der Wissenschaftler will deshalb zudem Seesedimente im
internationalen Bohrkernlager am MARUM untersuchen. Denn wenn bestimmte
Mehrfachzucker schwer abzubauen sind, müssten sie sich auf dem Grund des
Meeres wiederfinden. „So könnte man etwa auch Regionen identifizieren, die
sich besonders gut als Kohlenstoffspeicher eignen.“

Und noch ein zweiter Forschungsansatz interessiert ihn: die Nutzung der
biologischen Funktion der Mehrfachzucker. Wenn sie die Kraft aufbringen,
Viren und Bakterien abzuwehren, könnten sie vielleicht sogar als Schutz
für den Menschen genutzt werden. Das, meint er, würde sich doch zu
überprüfen lohnen.

Originalpublikation:
Impact – Das Wissenschaftsmagazin der U Bremen Research Alliance

In der U Bremen Research Alliance kooperieren die Universität Bremen und
zwölf Forschungsinstitute der vier deutschen Wissenschaftsorganisationen
sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz - alle mit
Sitz im Bundesland.

Das seit 2019 erscheinende Forschungsmagazin Impact dokumentiert die
kooperative Forschungsstärke der Allianz und ihre gesellschaftliche
Relevanz. „Algenzucker – winzige Verbindungen mit großer Wirkung“ wurde in
Ausgabe 4 (06.2021) veröffentlicht.

https://www.uni-
bremen.de/fileadmin/user_upload/sites/research_alliance/Impact_Magazin_U_Bremen_Research_Alliance_Ausgabe_4_Juni_2021.pdf