Herbert-Lewin-Preis würdigt Forschung zu Lebensgeschichten in der Psychiatrie im Nationalsozialismus
Magdeburger Medizinhistorikerin zeigt, wie fünf Menschen im annektierten
Elsass zwischen 1941 und 1944 psychiatrische Behandlung, Ausgrenzung und
Gewalt erlebten
Die Medizinhistorikerin und Ärztin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch aus dem
Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen
Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ist mit dem Herbert-
Lewin-Preis ausgezeichnet worden.
Der Preis würdigt Forschungsarbeiten zur
Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. In ihrer
zweiten Dissertation rekonstruiert Münch die Lebenswege von fünf Menschen,
die in den Jahren 1941 bis 1944 im annektierten Elsass psychiatrische
Einrichtungen durchlaufen mussten. Die Untersuchung zeigt, wie
unterschiedlich die Betroffenen diese Erfahrungen erlebten, von
belastenden Behandlungen über die Ausgrenzung aus Familien bis hin zu
Zwangsarbeit und tödlicher Gewalt in der NS-Zeit.
Fünf Lebenswege als Fenster in den Klinikalltag der NS-Zeit
Während über die deutsche und französische Psychiatrie während des Zweiten
Weltkrieges bereits viele Studien vorliegen, fehlten bisher grundlegende
Erkenntnisse dazu, wie Patientinnen und Patienten selbst die Behandlung
und die Bedingungen vor Ort erlebt haben. Münch wertete dafür
Krankenakten, Briefe, Transportlisten, Fotos und Gespräche mit Angehörigen
aus.
Die porträtierten Personen – eine Opernsängerin, eine ukrainische
Zwangsarbeiterin, ein Gärtner, eine junge Mutter und ein elsässischer
Fabrikarbeite – bieten unterschiedliche Perspektiven auf den
psychiatrischen Alltag zwischen 1941 und 1944. Die Erfahrungen reichen von
Elektroschockbehandlungen, die damals als moderne Therapie galten, über
langjährige Unterbringung bis hin zur Deportation in die Tötungsanstalt
Hadamar. 100 Menschen aus dem Elsass wurden dorthin gebracht, nur drei
überlebten.
„Viele dieser Menschen hatten nie die Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu
erzählen oder Gehör zu finden. Unsere Aufgabe als Forschende ist es, ihre
Erfahrungen sichtbar zu machen und zu zeigen, welche Konsequenzen die
nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf ihr individuelles Erleben von
Krankheit hatten“, sagt Münch.
Die Geschichte des Fabrikarbeiters Alphonse Glanzmann zeigt dies besonders
deutlich. Er überlebte die Morde in Hadamar, doch seine Erlebnisse wurden
nach seiner Rückkehr aus seiner Biographie und aus seiner
Krankengeschichte ausgeblendet. „Viele Angehörige wussten nicht, was ihren
Verwandten widerfahren war. Das Schweigen setzte sich oft über
Generationen fort“, erklärt Münch.
Was die Forschung über den Klinikalltag offenlegt
Die Untersuchung zeigt, wie unterschiedlich psychiatrische Einrichtungen
funktionierten. In der Psychiatrischen Klinik der sogenannten
„Reichsuniversität” Straßburg wurden Elektroschockbehandlungen ab 1942
häufig angewendet. In rund 15 Prozent der Fälle wurden Patientinnen und
Patienten in Heil- und Pflegeanstalten in der ländlichen Peripherie
verlegt. Auch die nationalsozialistische Zwangsarbeitspolitik spiegelte
sich im Klinikalltag wider: Mindestens 27 Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter wurden behandelt, ohne dass ihre Lebensbedingungen in
Diagnosen einflossen.
Viele Quellen stammen aus Sicht der behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Erst
die Gespräche mit Angehörigen ermöglichten eine vollständigere
Rekonstruktion. „Die Krankenakten erzählen nur einen Teil der Geschichte.
Erst durch die Auswertung weiterer Quellen und den Dialog mit Angehörigen
wurde eine annähernde Rekonstruktion der Lebenswege möglich, die über den
Aufenthalt in der Psychiatrie hinausreichen“, so Münch.
Warum die Ergebnisse heute wichtig sind
Die Untersuchung zeigt, wie lange Betroffene und ihre Familien unsichtbar
blieben, teils bis in die 1980er-Jahre. Im Elsass dauerte es besonders
lange, da Grenzverschiebungen und Konflikte zwischen Frankreich und
Deutschland das Erinnern erschwerten.
„Wenn wir verstehen wollen, wie Ausgrenzung entsteht, müssen wir auch die
Geschichten der Menschen kennen, die damals als ‚anders‘ galten“, betont
Münch. Die Biografien verweisen auf die Konsequenzen, die eine
faschistische Diktatur für Personen haben kann, die in welcher Weise auch
immer als andersartig und fremd angesehen werden. „Angesichts des
Erstarkens rechter und rechtsradikaler Bewegungen in Europa erscheint mir
die Aufmerksamkeit für ihre Lebenswege als besonders dringlich”, so Münch.
Vor diesem Hintergrund bieten die Forschungsergebnisse, also alles was man
über diese Menschen, über ihr bisher verborgenes und unsichtbares Leben
sowie über die generationsübergreifenden Auswirkungen, erfahren hat, eine
Grundlage für die Gestaltung einer europäischen Erinnerungskultur. Die
Integration in diverse öffentliche Gedenkstätten ist angedacht. Zudem
plant Münch, ihre Dissertation ins Französische übersetzen zu lassen. „Ich
möchte, dass die Familien der Betroffenen Zugang zu diesen Geschichten
bekommen, über Ländergrenzen hinweg“, sagt sie.
Die Dissertation entstand im Rahmen der unabhängigen, internationalen
historischen Kommission zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der
„Reichsuniversität“ Straßburg (1941–1944) und wurde von der Université de
Strasbourg finanziert. Die Vergabe des Herbert-Lewin-Preises erfolgt
gemeinsam vom Bundesministerium für Gesundheit, der Bundesärztekammer, der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Bundeszahnärztekammer und der
Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.
Foto: Verleihung des 10. Herbert-Lewin-Preises 2025: Gratulation an
Medizinhistorikerin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch (r.) von der Universität
Magdeburg durch Dr. Romy Ermler (l.), Präsidentin der
Bundeszahnärztekammer und Jurymitglied Prof. Dr. Volker Hess (Mitte),
Leitung des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin
an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Fotograf: BZÄK/axentis.de
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. med. Dr. phil. Lea Münch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Bereich
Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Otto-von-Guericke-Universität
Magdeburg,
Originalpublikation:
Die Arbeit erscheint im Januar 2026 unter dem Titel
„Psychiatrieerfahrungen im Elsass. Lebensgeschichten zwischen Strasbourg
und Hadamar im Nationalsozialismus” im Brill-Verlag
