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Russian National Youth Symphony Orchestra Foto Evgeny Razumny
Russian National Youth Symphony Orchestra Foto Evgeny Razumny

Besetzung und Programm:

Russian National Youth Symphony Orchestra
Valentin Uryupin  Dirigent
Sergej Dogadin  Violine
 
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893)
Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 Pathétique

 

Bei der Rückkehr in eine “Teilnormalität» gehen die Konzertveranstalter verschiedene Wege. Während z.B. das Lucerne Festival und das Zürcher Kammerorchester kein COVID Zertifikat verlangen, dafür die Platzzahl auf 50 Prozent beschränken müssen und eine es besteht Maskenpflicht. Dafür können z.B. die Festival Strings Lucerne, bei denen ein COVID Zertifikat erforderlich ist, die Plätze bis zu 80 Prozent auslasten und die Besucher ohne Maskenpflicht empfangen. Alle Konzerte des diesjährigen Festivals werden aufgrund Corona ohne Pause durchgeführt.

Begrüssung durch den Intendanten

Intendant Michael Häfliger zeigte sich in seinem kurzen Begrüssungsspeech, dass man das Sommerfestival, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen, doch wie geplant durchführen könne, was natürlich besonders auch für die Künstler gelte, die endlich wieder ihren Beruf, der ja in den meisten Fällen auch Berufung ist, wieder ausüben können, nach der langen, anderthalbjährigen Zwangspause

Das Orchester wurde auf Vladimir Putins Wunsch gegründet

Für einmal eröffnete das, von Putin im Mai 2018 initiierte, Russian National Youth Symphony Orchestra das Festival, anstatt wie üblich das Lucerne Festival Orchestra. Es vereinigt die Elite junger Absolventen aus den Konservatorien ganz Russlands und alle Mitglieder sind negativ auf Corona getestet.

Das ganz schwarz gewandete Ensemble das die Konzertbühne enterte, die Musikerinnen mit etwas Glitter dazu, besteht momentan aus 108 Mitgliedern aus 42 Regionen des Riesenreiches. Zu ihnen gesellte sich der schlaksige, hochgewachsene Dirigent Valentin Uryupin, der als Klarinettist über 20 Wettbewerbe gewonnen hatte und weltweit konzertierte, bevor er sich ganz aufs dirigieren konzentrierte.

Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 in der ersten Konzerthälfte

Sergej Dogadin Foto  Anastasia Steiner
Solist Violine Sergej Dogadin Foto Anastasia Steiner

In Clarens am Genfersee entstand Tschaikowskys einziges Violinkonzert: ein
lebensfrohes Werk, das er im Frühjahr 1878  in gut drei Wochen niederschrieb. Als die Instrumente feingestimmt waren betrat auch der 1988 geborene Geigensolist Sergej Dogadin die Szene, der u.a. 2019 als Sieger aus dem renommierten Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb hervor ging. Bei diesem Werk ist, im Gegensatz zu vielen anderen Violinkonzerten, wo die Solisten nur ab und zu ins Geschehen eingreifen, der Solist fast dauernd am Spielen, was natürlich extrem fordernd und anstrengend ist.

Der berühmte Geiger Leopold Auer, dem Tschaikowski das Werk widmen wollte, lehnte es gar als unspielbar ab. Erst im Dezember 1881 fand in Wien die Uraufführung statt – mit dem jungen Geiger Adolf Dawidowitsch Brodsky, der in Wien studiert hatte und die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Hans Richter für das Werk gewinnen konnte. Die Kritiken fielen allerdings nicht rosig aus, so ließ sich etwa der gefürchtete Eduard Hanslick zu folgender Beurteilung hinreißen: «Tschaikowskis Violinkonzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht Musikstücke geben könnte, die man stinken hört.»

Doch der vermeintliche «Gestank» verbreitete sich bald als beliebter konzertanter Wohlklang in der ganzen Musikwelt. Hanslicks Kritik erscheint auch insofern unverständlich, setzte doch Tschaikowski gerade im Violinkonzert äußerst subtil die thematischen Einfälle um. Die slawisch-romantische Ausdruckssprache ist von Innigkeit und Tiefe erfüllt, gerät nie an die Oberfläche und verbreitet nicht den Geruch des ungustiös Plakativen. In der Form und Gestaltung behält Tschaikowski klassisches Ebenmaß. So wie bei den Tonarten-Genossen, den Violinkonzerten von Beethoven und Brahms, verschmelzen in Tschaikowskis D-Dur-Konzert lyrisch-gesangliche Eigenschaften, wie sie zum Charakter des Soloinstrumentes gehören, mit symphonischen Konturen.

Aus verhaltener Bewegung zu epischer Grösse

Der Kopfsatz (Allegro moderato) entwickelt sich aus verhaltener Bewegung allmählich zu epischer Größe, bis am Ende der Exposition erstmals das edle Hauptthema im ganzen Orchester auftrumpft. Tschaikowski verdichtet dann Schicht für Schicht das Geschehen. So verteilt er etwa das Hauptthema auf virtuoses Figurenwerk der Solovioline, die die zunächst kantabel geschwungene Thematik zunehmend dramatisch verdichtet, darin unterstützt vom Orchester. Auch in der Kadenz, die im Rahmen des thematischen Prozesses bereits am Ende der Durchführung platziert ist, setzt die Violine die motivische Entwicklung fort und gefällt sich nicht bloß in virtuoser Selbstdarstellung. In der Reprise verstärkt Tschaikowski durch wonnevolle Ausbreitungen die Bedeutung des Seitenthemas. In der Coda zieht er das Tempo an und erzeugt die Wirkung einer Stretta. In der Canzonetta (Andante) folgt einem Holzbläservorspiel eine innige Hauptmelodie in der Violine, mit der Tschaikowski noch einmal in die Welt des melancholischen Lenski in der Oper «Eugen Onegin» eintauchte. Das zweite Thema bringt freudige Bewegung ins Spiel, bis die Kantilene, nun von typischen Tschaikowskischen Tontupfern in den Holzbläsern begleitet, wiederkehrt.

Akkord wie ein Peitschenschlag

Wie ein Peitschenschlag saust ein Akkord dazwischen, mit dem das Orchester das Finale (Allegro vivacissimo) eröffnet und ein Thema in Gang setzt, das – in der Canzonetta schon in einer Vorgestalt leise angekündigt – nun zur Triebfeder eines mitreißenden Rondos wird. Die Gestalt des Hauptmotivs hat durch und durch russische Wurzeln, die zu einem anderen Werk ausschlagen: Das Motiv ähnelt stark dem zweiten Thema aus Michail Glinkas Fantasie «Kamarinskaja», das wiederum auf ein russisches Volkslied zurückgeht. Das Seitenthema des Tschaikowski-Finales lässt sich hingegen in seinen Ursprüngen der russischen Zigeunermusik zurechnen (wir kennen eine solche volksmusikalische Note von Brahms, der gerne magyarische Anklänge ins Spiel brachte). Auch in dieses furiose Finale schiebt Tschaikowski noch lyrische Perioden mit einem sehnsuchtsvoll von der Oboe angestimmten und von Klarinette, Fagott und Solovioline aufgegriffenen dritten Themengebilde ein und schafft damit einen zyklischen Stimmungsbogen, der mit einem brillanten Ausklang geschlossen wird.

Der Solist meistert alle technischen Klippen bravourös

Alle technischen Klippen, die im Werk vom Komponisten *eingebaut» wurden, meisterte Sergej Dogadin ohne die geringste Unsicherheit in höchster technischer Perfektion und kraftvoll- emotionaler Ausdrucksweise, mit vollem Körpereinsatz und kongenialer Unterstützung durch seine jungen Mitmusiker. Den langanhaltenden kräftigen Applaus belohnte der Solist schliesslich mit einer kurzen Improvisation als Zugabe

Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 Pathétique in der 2. Konzerthälfte

Dirigent Valentin Uryupin Foto Daniil Rabovsky
Dirigent Valentin Uryupin Foto Daniil Rabovsky

Ist die sechste Sinfonie tatsächlich so etwas wie ein selbst verfasstes Requiem? Auftrieb erhält diese Theorie durch die „düstere“ Tonart h-Moll, die für große Leidenschaft und Tragik steht, und durch den ungewöhnlichen formalen Aufbau: Das Motiv einer fallenden Sekunde, das man als Klageruf deuten kann, durchzieht das ganze Werk. Nach der langsamen, dunklen Einleitung (ohne Geigen, ohne hohe Bläser) folgt ein Sonatensatz. Der Seitensatz ist dabei durch sein Andante-Tempo deutlich vom ersten Teil abgegrenzt. Nachdem es im völligen Pianissimo ausklingt, beginnt die Durchführung mit einem stürmischen Fugato. Nach einer Beruhigung und einem etwas versteckten Zitat aus der russisch-orthodoxen Totenliturgie vermischt sich im weiteren Verlauf die motivische Arbeit des Hauptsatzes mit der Reprise. Die Koda schließlich steht in ruhigem H-Dur.

Ungewöhnlicher 5/4 Takt

Der zweite Satz, eine Art Menuett oder Walzer, hätte kaum Ungewöhnliches an sich, stünde er nicht komplett im 5/4-Takt. Zwar ist dieser „krumme“ Takt in der russischen Volksmusik durchaus üblich und so bereits in zwei Opern Michail Glinkas, des „Vaters“ der russischen Oper, zu finden. In die große Sinfonik hatte er sich bisher jedoch nicht „verirrt“. Der dritte Satz beginnt als leise dahinhuschendes Scherzo. Allmählich setzt sich ein zunächst nur versteckt im Hintergrund erklingendes Marschthema durch, das immer mehr die Oberhand gewinnt und schließlich so lange durchgeführt wird, dass sich eine Finalwirkung einstellt. Der dritte Satz Scherzo beginnt ohne Thema – aufgeregte Vorbereitungen für ein großes Ereignis. Als dieses in Gestalt eines strahlend-fatalen Marsches eintritt, schlägt die Stunde des Schlagzeugs! Und hier führt der Dirigent sein Orchester nahe an die Grenze der noch ertragbaren Lautstärke ins vermeintliche Finale  „Wie so oft klatsche das Publikum spontan nach diesem Satz“,

Beim Finale führt Tschaikowsky uns an der Nase herum

Die Sinfonie ist hier jedoch noch nicht zu Ende, sondern es folgt als wirkliches Finale ein leidenschaftliches Adagio lamentoso. Beim Hauptthema verwendet Tschaikowsky einen besonderen Instrumentierungstrick. Die Töne der absteigenden Melodie sind abwechselnd auf die beiden Geigengruppen verteilt, sodass sich der gewünschte Klangeindruck nur aus dem Zusammenspiel der beiden ergibt. Der Schluss der im Pianissimo ausklingenden Sinfonie bleibt Celli und Kontrabässen vorbehalten.

Nach einem längeren Moment der absoluten Stille realisierte das Auditorium, dass dies das Finale war und es folgte ein donnernder Schlussapplaus.

Nachtrag: Rucksacktouristen der anderen Art

Bei der Anreise betraten wir zu zweit das 20 Plätze umfassende Zugabteil und erschraken, dass 15 Plätze schon belegt waren und zwar folgendermassen: 3 Damen, 5 Herren und 7 Rucksäcke. Da niemand die Idee hatte, von sich aus ihrem Rucksack im Gepäckfach oder sonst wo zu deponieren, musterte ich alle, überlegend, wer am wenigsten erbost reagieren würde, wenn ich um ebendieses bat. So nahm ich all meinen Mut zusammen, näherte mich einem jüngeren Herrn mit meiner Bitte, wohl wissend, dass, falls er dieser nachkam, ich mir seines abstrafenden Blickes bis zu unserem Ausstieg in Luzern sicher sein konnte. Dass aber je länger je mehr, diese Rucksäcke auch in die Konzert- oder Theatersäle mitgenommen werden, ist für mich unbegreiflich, kann man diese doch, notabene, fast überall kostenlos, an den Garderoben deponieren. Zudem ist sehr lästig für andere Konzertbesucher, wenn man äusserst aufpassen muss, dass man nicht über diese stolpert, wenn man seinen Platz aufsucht, da diese Utensilien ja am Boden, immerhin nicht auf einem Stuhl, herumliegen. Natürlich auch hier abstrafende Blicke, wenn man höflich bittet, die Dinger doch aus dem Weg zu räumen. Wahrscheinlich dauerts nicht mehr lange, bis die ersten auch noch das Picknick auspacken, die Petflasche in der Hand ist ja bereits Usus. Man kann nur hoffen, dass diese Unsitte bald aus den Konzertsälen verbannt wird.

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch  Peter Fischli und Priska Ketterer

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