Unterschätzt und unterdiagnostiziert: Migräne ist nicht einfach nur ein Kopfschmerz
Jedes Jahr am 12. September findet der Europäische Kopfschmerz- und
Migränetag statt. Mit ihm machen die European Migraine & Headache Alliance
(EMHA) sowie zahlreiche nationale Vereinigungen auf
Kopfschmerzerkrankungen, Versorgungsdefizite und Prävention aufmerksam. In
der Universitätsmedizin Würzburg laufen verschiedene Studien zur
verbesserten Diagnostik und Behandlung der Migräne, für die noch
Teilnehmende gesucht werden.
Würzburg. Obwohl Kopfschmerzerkrankungen zu den häufigsten neurologischen
Erkrankungen gehören, werden sie in der Öffentlichkeit nicht als ernsthaft
wahrgenommen, da sie meist nur episodisch auftreten, nicht ansteckend sind
und in der Regel nicht zum Tod führen. Doch Kopfschmerzen sind nicht nur
schmerzhaft, sie können auch das Familien-, Sozial- und Berufsleben
beeinträchtigen.* Laut einer Studie des Robert Koch Instituts ist jeder
zweite Bundesbürger mindestens einmal im Jahr von Kopfschmerzen betroffen.
14,8 % der Frauen und 6,0 % der Männer erfüllen die kompletten Kriterien
für Migräne. 10,3 % der Frauen und 6,5 % der Männer sind von
Spannungskopfschmerzen betroffen.
Kopfschmerzen werden in Umfang und Ausmaß der Belastung oft unterschätzt
Der European Migraine & Headache Alliance (EMHA) zufolge ist die Migräne
die dritthäufigste Krankheit der Welt; etwa eine von sieben Personen
leidet unter Migräne, die ihren Alltag und ihre Lebensqualität auch über
die reine Zeit der Attacken hinaus stark einschränkt**. Doch warum kennen
wir so wenige Betroffene? „Weil Kopfschmerzerkrankungen in ganz Europa
nach wie vor zu wenig diagnostiziert und behandelt werden. Viele
Betroffenen leiden leise, schätzungsweise jeder zweite behandelt sich
selbst, statt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen“, weiß Prof. Dr.
Claudia Sommer, leitende Oberärztin in der Neurologischen Klinik und
Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) und Leiterin des
Projekts „Approach and avoidance behaviour in pain management“ im von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkolleg 2660.
Mit dem Europäischen Kopfschmerz- und Migränetag will die EMHA das
Bewusstsein für diese unterschätzte Krankheit schärfen. Das UKW nimmt
diesen Tag zum Anlass, um über seine Migräneforschung zu berichten.
Claudia Sommer leitet gemeinsam mit Andrea Kübler, Professorin für
Psychologie an der Universität Würzburg, derzeit drei ineinandergreifende
Studien, um die Diagnose und Therapie von Migräne zu verbessern. Zum einen
wollen die beiden Forscherinnen, die im Research.com-Ranking unter den
besten 100 Wissenschaftlerinnen in Deutschland und unter den besten 1.000
weltweit gelistet sind, die Pathophysiologie der Migräne besser verstehen,
also wie der Körper unter den krankhaften Veränderungen abweichend
funktioniert und welche Funktionsmechanismen zur krankhaften Veränderung
führen. Zum anderen erproben sie mit ihren Teams neue Ansätze zum Umgang
mit Migränetriggern, also Auslösern von Attacken. „Dem adäquaten
Triggermanagement kommt großes Potential in der Verbesserung des Lebens
von Menschen mit Migräne zu“, betont Claudia Sommer.
Stress, Dehydrierung und der Menstruationszyklus als häufigste Trigger von
Migräneattacken
So wurden in einer Fragebogenstudie mit bislang insgesamt 432
Migränepatientinnen und -patienten Stress, Dehydrierung und der
Menstruationszyklus als häufigste Trigger von Attacken identifiziert,
wovon allerdings nicht alle gut vermieden werden können. Auch zeigten sich
Korrelationen von Triggersensitivität mit Markern für schlechtere
Lebensqualität. Vorläufige Daten wurden auf dem World Congress on Pain
2022 im kanadischen Toronto veröffentlicht.
Verbesserte Probenentnahme und Messung des CGRP-Spiegels bei
Migränepatienten
In einer weiteren Studie steht das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)
im Fokus. „Migräne gilt als eine neuronale Erregbarkeitsstörung, bei der
das trigeminovaskuläre System, also das Zusammenspiel von Nerven und
Blutgefäßen in den Hirnhäuten, eine Schlüsselrolle zu spielen scheinen“,
erläutert Morgane Paternoster, Doktorandin in der Würzburger Neurologie.
Bekannt ist, dass der Beginn eines Migräneanfalls mit einem Anstieg
entzündungsfördernder Moleküle und Neuropeptide verbunden ist, darunter
das CGRP. Das aus 37 Aminosäuren bestehende Neuropeptid zählt zu den
stärksten gefäßerweiternden Substanzen, den so genannten Vasodilatatoren.
Wenn also die durch äußere und innere Stimuli getriggerten Nerven vermehrt
CGRP freisetzen, wird das trigeminovaskuläre System aktiviert.
Für die neurobiologische Charakterisierung einer Migräne wurden bislang in
der Neurologischen Klinik am UKW die CGRP-Spiegel von 136 Patientinnen und
Patienten mit und ohne Migräne untersucht und verglichen. Um die
zuverlässigste Methode zur Probenentnahme und -messung des CGRP-Spiegels
festzulegen wurde von allen Teilnehmenden Blut, Tränenflüssigkeit und
Speichel gesammelt. „Eventuell könnten im Zuge einer personalisierten
Medizin anhand der CGRP-Spiegel Vorhersagen über das Ansprechen des
einzelnen Patienten auf CGRP-Hemmer getroffen werden. Neueste
Publikationen zeigen diesbezüglich vielversprechende Ergebnisse“,
kommentiert Morgane Paternoster. Erste Ergebnisse der Würzburger CGRP-
Kohorte werden im November 2023 auf dem Society for Neuroscience Kongress
im US-amerikanischen Washington D.C. präsentiert.
Neurofeedback für bewusstes und ausgeglichenes Verhalten zu Auslösern
In der dritten Studie untersucht das interdisziplinäre Team den möglichen
Einsatz von Neurofeedback zur Unterstützung der Migränebehandlung. „Da
viele Betroffene bestimmte Trigger ihrer Migräne identifizieren können,
ist der Umgang mit diesen Auslösern ein vielversprechender Ansatz für eine
solche Unterstützung“, erklärt Morgane Paternoster. Zu diesem Zweck finden
in Kooperation mit der Universität Würzburg hochauflösende EEG-Messungen
an je 30 Personen mit und ohne Migräne statt. Während der Messung der
Gehirnaktivität mit 128 Elektroden werden die Studienteilnehmenden mit
bestimmten Triggern konfrontiert und daraufhin vor
Verhaltensentscheidungen gestellt. „Hierdurch möchten wir die
Gehirnprozesse identifizieren, die am Vermeidungsverhalten von Menschen
mit Migräne beteiligt sind, und das beste Stimulationsziel für eine
Neurofeedback-Modulation auswählen. Dadurch sollen die Betroffenen ein
ausgeglichenes und bewusstes Verhalten zu den individuellen Auslösern
ihrer Migräne erlangen. Zusätzlich soll eine objektive Messmethode zur
Ermittlung des Vermeidungsverhaltens von Menschen mit Migräne etabliert
werden“, beschreibt Sebastian Evers, ebenfalls Doktorand in der
Arbeitsgruppe von Claudia Sommer, die Ziele der Studie.
Die ersten Ergebnisse werden Ende des Jahres erwartet, auf deren Grundlage
die ersten Neurofeedback-Sitzungen in der Mitte nächsten Jahres gestartet
werden sollen.
Weitere Studienteilnehmende werden gesucht
Das Team von Prof. Dr. Sommer ist immer auf der Suche nach neuen
Studienteilnehmenden, die an Migräne leiden und die Diagnostik und
Behandlung verbessern möchten. Betroffene können sich bei Interesse und
für weitere Informationen gerne bei Morgane Paternoster und Sebastian
Evers melden: Paternoste_M(at)ukw.de oder Evers_S(at)ukw.de.
Typische Kopfschmerzerkrankungen
Kopfschmerzen können durch eine lebensbedrohliche Erkrankung wie etwa ein
Hirntumor verursacht werden. In den meisten Fällen handelt es sich bei
Kopfschmerzerkrankungen jedoch um eine gutartige, nicht lebensbedrohliche
Erkrankung, die allerdings mit einem hohen Leidensdruck einhergeht.
Die häufigsten Kopfschmerzerkrankungen sind Migräne und
Spannungskopfschmerz. Während der dumpf, ziehende und beidseitig
vorkommende Spannungskopfschmerz oft als normaler Kopfschmerz wahrgenommen
wird, ist die Migräne mit Übelkeit und/oder Erbrechen sowie einer
Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen verbunden.
Charakteristisch für die Migräne ist ein pulsierender oder pochender,
einseitiger Schmerz, der durch körperliche Aktivität verstärkt wird. Bei
einer Migräne mit einer so genannten Aura kommen noch Flimmern oder
Blitzen vor den Augen sowie Schwäche, Lähmung oder Taubheitsgefühl eines
Armes oder Beines oder Sprachstörungen hinzu. Ferner gibt es das Syndrom
des chronischen täglichen Kopfschmerzes sowie die eher seltenen
Erkrankungen Clusterkopfschmerz und Trigeminusneuralgie.
Gelegentliche Kopfschmerzen sind in der Regel harmlos und verschwinden oft
schon mit einem Spaziergang an der frischen Luft, ausreichend Schlaf und
Flüssigkeitszufuhr oder einer einzelnen Tablette. Treten starke
Kopfschmerzen jedoch gehäuft auf, sollte ein Arzt oder eine Ärztin
konsultiert werden, bei plötzlichen und extrem starken Kopfschmerzen ist
der Notarzt zu rufen.
* Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört allein die
Migräne zu den zehn häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und
betrifft 12-15 % der Bevölkerung. Die verlorenen Arbeitstage und
Produktivitätseinbußen kosten die europäische Wirtschaft jährlich 27
Milliarden Euro (Cost of Brain Disorders in Europe, 2006)
** Stovner, L. J., Nichols, E., Steiner, T. J., Abd-Allah, F., Abdelalim,
A., Al-Raddadi, R. M., Ansha, M. G., Barac, A., Bensenor, I. M., Doan, L.
P., Edessa, D., Endres, M., Foreman, K. J., Gankpe, F. G., Gopalkrishna,
G., Goulart, A. C., Gupta, R., Hankey, G. J., Hay, S. I., . . . Murray, C.
J. L. (2018). Global, regional, and national burden of migraine and
tension-type headache, 1990–2016: a systematic analysis for the Global
Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology, 17(11), 954-976.
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