Zum Hauptinhalt springen

Teodor Currentzis – musicAeterna, KKL Luzern. 8. Oktober 2021, besucht von Léonard Wüst

Setzte das KKL drei Tage lang unter Strom: Teodor Currentzis dirigiert sein «musicAeterna»-Orchester unter anderem in Mahlers fünfter Sinfonie. Foto Matthias Creutziger
Setzte das KKL drei Tage lang unter Strom: Teodor Currentzis dirigiert sein «musicAeterna»-Orchester unter anderem in Mahlers fünfter Sinfonie. Foto Matthias Creutziger

Besetzung und Programm:
Teodor Currentzis Leitung
musicAeterna Orchester
Alexey Retinsky: «Anapher» für symphonisches Orchester (Uraufführung)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5

Ein illustres, teils gar prominentes Publikum strömte erwartungsfreudig in den Konzertsaal, darunter u.a. Samih Sawiris, der ägyptische Grossinvestor u.a. des Andermatt Swiss Alps Projektes.

Uraufführung von Alexey Retinskys neuem Werk Anapher für symphonisches Orchester

Komponist Alexey Retinsky
Komponist Alexey Retinsky

Immer schwer, Uraufführungen zu rezensieren, da man keinerlei Bezugspunkte, weder literarische, noch akustische in Form eines Tonträgers, hat. Deshalb kam mir sehr gelegen als meine Begleiterin am Ende des Werks bemerkte: Das hat getönt wie in der Taiga. Also, das Pferd von hinten aufzäumen und fragen

Wie tönt ein Tag in der Taiga?

Kraftvolles hochkonzentriertes Dirigat des griechischen Genies
Kraftvolles hochkonzentriertes Dirigat des griechischen Genies

In den Wäldern der Taiga leben Elche und Braun- und Schwarzbären, aber auch Eichhörnchen, Füchse, Dachse, Hasen, Zobel und der Vielfraß. Marder. Wildschweine, Luchse, Nerze und Hirsche kommen ebenfalls vor. Es wachsen Nadelbäume wie Kiefern, Fichten, Tannen und Lärchen. All deren diverse Geräusche zu orchestrieren, damit sie von einem Klangkörper interpretiert werden können erscheint uns als ein Ding der Unmöglichkeit. Doch genau dies macht der gebürtige Krim Ukrainer Retinsky und bedient sich dafür auch sehr ungewöhnlicher Instrumente, von welchen de E Gitarre noch das gebräuchlichste ist. Wo aber findet man sonst eine Partitur, die auch Noten für Semantron und hundert Wasserpfeifen.enthält?

Komposition für Wasserpfeifen?

E-Gitarre Symbolbild
E-Gitarre Symbolbild
Betzold Vogelwasserpfeifen
Betzold Vogelwasserpfeifen

Genau diese Wasserpfeifen sind es denn auch, die ungefähr in der Mitte des Werkes ein grossartiges Vogelgezwitscher erzeugen, das Currentzis genüsslich auskostend in die Länge zieht, bevor sich die Töne wie ein Vogelschwarm wieder voneinander trennen und in der Taiga verstummen. Kündigt das kurz dröhnende Brummen der Bässe das Erscheinen eines Braunbären an, sequenziert die trillernde Querflöte das Herumhuschen eines flinken Eichhörnchens, symbolisieren die sanften Harfenklänge das rieseln den Nadeln, die von den Fichten und Tannen zu Boden schweben?

Klangwelten einer uns unbekannten Fauna und Flora

Semantron Symbolfoto
Semantron Symbolfoto

Das aufgeregte Trällern des Piccolos versinnbildlicht die Angstschreie einer von einem Fuchs im Gras aufgescheuchten Schnepfe. Symbolisiert das Schlagwerk nicht Storchengeklapper? Alexei Retinski,Teodor Currentzis – musicAeterna eröffnen uns hier völlig neue Klangwelten, lassen uns akustisch eintauchen in eine uns unbekannte Fauna und Flora. Diese Klangwelten überzeugten auch das Publikum im vollbesetzten Konzertsaal, welches dann auch nicht mit stürmischem Applaus geizte, bevor man sich in die Wandelhallen des KKL in die Pause begab.

Näheres zum Komponisten

Auch die leiseren Töne wurden gehört
Auch die leiseren Töne wurden gehört

 

Auch am Basss passiert was
Auch am Basss passiert was

Alexei Retinski, der erste Resident der musicAeterna Komponisten-Werkstatt in Sankt Petersburg ist ein Absolvent der Zürcher Hochschule der Künste und der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz bei Professor Beat Furrer. Seine Werke werden häufig in russischen und europäischen Konzertsälen aufgeführt. „Anapher“ wurde für ein grosses Sinfonieorchester, eine E-Gitarre, drei Semantrons und hundert Wasserpfeifen komponiert. Das Nebeneinander von klassischer Besetzung und atypischen Instrumenten beruht auf dem dramaturgischen Konzept eines qualitativen Übergangs in einen neuen Zustand. Dieser Übergang wird durch eine quantitative Anhäufung von Instrumenten erzielt, die die traditionelle orchestrale Textur scheinbar durchbricht. Dabei verlässt die Textur das konventionelle Achsensystem und überschreitet die Grenzen der legitimen Temperamente und klanglichen Hierarchien – und wie sich am Ende herausstellt, ist der scheinbar „entgleiste Zug“ mit Flügeln ausgestattet.

2. Konzertteil Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Jede Note ist von der vollsten Lebendigkeit und alles dreht sich im Wirbeltanz. Es bedarf nicht des Wortes, alles ist rein musikalisch gesagt.«
Gustav Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner über seine Fünfte Sinfonie

Mahlers Philosophie in Musik verpackt

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Mahler waren Sinfonien stets ein Mittel zur Interpretation komplexer philosophischer Probleme, die verbal nicht gelöst werden konnten. Die anspruchsvolle Struktur der fünfteiligen Sinfonie reicht vom Trauermarsch bis hin zum fulminanten Finale – ein unerschrockener Versuch, den tragischen Konflikt mit der ihn umgebenden Welt zu lösen. Der geniale vierte Satz der Sinfonie, das Adagietto, gleicht einer wunderschönen geheimnisvollen Blume, die jeder Dirigent in seinem eigenen Stil neu interpretiert. Mahler hat als einer der einflussreichsten Maestros des zwanzigsten Jahrhunderts die Rolle des Dirigenten neu definiert. Für Mahler ist der Dirigent ein ebenso wesentlicher Bestandteil seiner musikalischen Werke wie der Komponist. Wenn ein Dirigent das Pult betritt und die Partitur aufschlägt, erschafft er musikalische Universen von Grund auf neu. Seit vielen Jahren führen Teodor Currentzis und das musicAeterna Orchester Mahlers Sinfonien in vielen Ländern der Welt auf. Die Fünfte Sinfonie hat dabei ihren Platz als einer der Höhepunkte des Zyklus erobert

Mahler neu gedacht von Teodor Currentzis – musicAeterna

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Ein ausführlicher Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt in cis-Moll ist dem eigentlichen Hauptsatz vorangestellt. Er beginnt mit einer verhaltenen Trompetenfanfare, welche zum maßgeblichen Motiv des Marsches wird. Das Motiv erinnert an den Beginn des Generalmarsches der österreichisch-ungarischen Armee. Die Fanfare wird im Orchestertutti abgeschlossen und anschließend resignierend in die Tiefe geführt. Es schließt sich ein klagendes, gesangliches Thema der Streicher an und sorgt im Folgenden für eine dunkle und bedrohliche Stimmung. Das Fanfarenmotiv kehrt nun im Orchester wieder und sorgt für eine musikalische Verdichtung. Der gemessen schreitende Zug wird durch ein erstes Trio unterbrochen. Ein plötzlich hervorbrechender Ausbruch in b-Moll, der sich zum Tutti steigert und die Grenzen des tonalen Raumes antastet, leitet es ein. Eine sprunghaft aufsteigende Melodie wird von synkopierenden Gegenrhythmen kontrastiert.

Dritter Satz

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Eine Walzermelodie bestimmt das erste Trio und lässt das Bild einer traumhaft-heilen Welt entstehen. Die inhaltliche Wiederholung des Scherzos führt zu einem Tuttihöhepunkt, welcher das zweite Trio einleitet. Im Gegensatz zum ersten handelt es sich um einen langen und thematisch schwergewichtigen Einschub. Eine durchgehende Bewegung fehlt hier, zahlreiche Haltepunkte führen maßgeblich zur großen Ausdehnung des Satzes. Eine wehmütige Melodie entfaltet sich in den Holzbläsern und Streichern zu minimalistischer Pizzicato Begleitung der Streicher. Ein elegischer Horn Ruf wirkt wie ein entrückendes Element und verleiht dem musikalischen Geschehen einen mystischen und tiefgehenden Klang, welcher einen böhmischen Klagegesang aufgreift[3]. Nach einiger Zeit verdichtet sich das Geschehen und steigert sich zu furiosen Läufen und einem großen Fortissimo am Rande der Tonalität.

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Langsam entwickelt sich im Anschluss eine dynamische Steigerung. Dieser dramatische Höhepunkt ist in höchst freier Chromatik gestaltet und geht, wie es für Mahler typisch ist, in mehreren Wellen vor sich. Er beruhigt sich durch die Wiederkehr des Hauptthemas. Der Mittelteil des dreiteiligen Satzes bringt einen neuen Gedanken, ohne jedoch eine Stimmungsänderung zu bewirken. Der Satz verklingt nach der Rückkehr des Hauptthemas friedlich und nahezu entrückt in pianissimo

Die Sinfonie endet mit einem sich langsam steigernden Rondo-Finale. Allegro – Allegro giocoso

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Die übersteigerte Apotheose ergeht sich in nahezu lärmender Polyphonie  und grenzenlosem Jubel und wird durch die Wiederkehr des Chorals aus dem zweiten Satz eingeleitet. Mahlers letzte Tempoangabe gibt vor: “Allegro molto und bis zum Schluss beschleunigend”. Der alles mit sich reißende Taumel beendet die Sinfonie mit einem mächtigen Tuttiakkord.

Konzertfoto von Alexandra Muravyeva
Konzertfoto von Alexandra Muravyeva

Currentis Interpretation der fünften Sinfonie Mahlers berührt und fesselt zugleich. Von der berühmten Trompetenfanfare über den dramatischen Ausdruck des zweiten Satzes und dem träumerisch-anmutenden Adagietto bis hin zur musikalischen Hin-und-her-Gerissenheit des Rondo-Finales, lotet er jede dynamische Nuance der Partitur aus. Gleichzeitig brilliert die Interpretation in Sachen Präzision und lebendigem Orchesterklang.

Die souveränen Hornisten in Mahlers 5. Sinfonie
Die souveränen Hornisten in Mahlers 5. Sinfonie

Currentzis nimmt das Schlagwerk und die Bläser ebenso energisch in die Pflicht, wie er die Streicher uns sanft zärtlich umschmeicheln lässt, besonders ausgeprägt beim tänzelnden Walzer im dritten Satz. Dabei bewegt sich der charismatische Dirigent elegant geschmeidig gibt seine Anweisungen mittels kleinen Gesten, auf- und anfordernder Blicken und motivierenden Körperbewegungen

Tiefgründig und messerscharf

Der Meister zeigt wos lang geht
Der Meister zeigt wos lang geht

Mit unverstelltem, tiefenscharfem Blick erschließen Teodor Currentzis und seine Mitmusiker die klanglichen Schönheiten ebenso wie die schroffen Abgründe der monumentalen Partitur, um deren finale Gestalt der Komponist gerungen hat wie bei kaum einer anderen seiner Sinfonien. Das Auditorium war hingerissen, aber auch tief beeindruckt von dieser Demonstration und feierte die Protagonisten mit einer langen, nicht enden wollenden stehenden Ovation.

Nachtrag

Er hatte schlagkräftige Argumente
Er hatte schlagkräftige Argumente

Ausser den Cellisten absolvierten alle Musiker*innen das Konzert stehend, auch eine Aussergewöhnlichkeit, schon fast ein Markenzeichen dieses Orchesters, Teil seiner intensiven Aura.Luzern gehört laut Pressetext zu den «wichtigsten Musikmetropolen mit hoher kreativer Energie». Einen Grund dafür hatte Currentzis selbst nach einem Konzert am Lucerne Festival genannt. Bei einem Auftritt vor Publikum im Panoramafoyer des KKL sagte er: Das ist der beste, wirklich der beste moderne Konzertsaal der Welt.»

Teodor Currentzis weiter:

Der Chef bedankt sich applaudierend bei seinen Mitmusikern
Der Chef bedankt sich applaudierend bei seinen Mitmusikern

Die musicAeterna Kreativresidenzen verwirklichen unsere Vision von der Zukunft der Kunst. Es ist ein Weg, die Künste zu erneuern, indem die Grenzen zwischen ihnen verwischt werden. In unseren Residenzen tauschen Künstler, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, aber ähnliche Visionen von Schönheit und der Zukunft der Kunst haben, Inspiration und Ideen aus. Dies ermöglicht es uns, uns selbst, die Welt und die Kunst aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, erweitert unseren Horizont und führt zu einem völlig neuen Ergebnis. Sie verändert uns unweigerlich. Und wir möchten, dass auch das Publikum diese Freiheit spürt und diesen Schwung bekommt. Die Residenz ist eine Möglichkeit, in einen Raum der Erkundung und Kommunikation einzutreten. Dies ist das Wesen und der Geist unseres Projekts.

Mein Fazit: Wer dieses Orchester mit seinem Dirigenten nie live erlebt hat, wird  nie verstehen, was Musik wirklich ist!

Kleine Fotosiashow zum Bericht:

fotodiashows.wordpress.com/2021/10/08/currentzis/

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: https://musicaeterna.org/

Homepages der andern Kolumnisten:  www.noemiefelber.ch

www.gabrielabucher.ch  www.herberthuber.ch

 www.maxthuerig.ch

  • Aufrufe: 61

Teodor Currentzis und musicAeterna: Erste internationale Residenz in Luzern

Theodor Currentzis mit musicAeterna Foto Anton Zavjyalov
Theodor Currentzis mit musicAeterna Foto Anton Zavjyalov

Teodor Currentzis und sein musicAeterna Team eröffnen am 6. Oktober dieses Jahres ihre erste internationale Residenz in Luzern. Das Residenz-Projekt macht die kreativen Methoden des musicAeterna Ensembles sichtbar und stellt auch ein neues Tourneen-Konzept dar. Da die Residenz wegen der Corona-Pandemie nicht wie ursprünglich geplant im Februar durchgeführt werden konnte, findet sie nun in der Zeit vom 6. – 8. Oktober, 2021 statt. Teodor Currentzis und sein musicAeterna Ensemble werden die Konzerthalle des KKL in ein kreatives Labor verwandeln, das es dem Publikum ermöglicht, die Musiker bei der Erforschung der Musik und auch anderer Bereiche der Kunst zu begleiten. Das Residenz-Programm umfasst Konzerte, Meisterklassen, kreative Zusammenkünfte, Filmvorführungen, Diskussionen und eine Fotoausstellung.

 

 

Das musicAeterna Orchester und der musicAeterna Chor stellt ein einzigartiges Ensemble von Musikern dar, die zu den gefragtesten russischen Musikern zählen. Das Repertoire reicht von weltberühmten Meisterwerken der Alten Musik über Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert bis hin zu experimentellen zeitgenössischen Kompositionen. Im Jahr 2004 von dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis in Nowosibirsk gegründet, besteht das Ensemble seit 17 Jahren als Kunstgemeinschaft — ein Team, das sich mit absoluter Hingabe der perfekten Klangqualität verschrieben haben.

 

Im Herbst 2019 übersidelten Teodor Currentzis und musicAeterna nach Sankt Petersbug. Hier wurde das alte Dom Radio Gebäude zu ihrem neuen künstlerischen Zuhause. Mit Unterstützung der VTB Bank, gründete musicAeterna hier das Kultur- und Bildungszentrum. Hier finden die Orchesterproben und Kammerkonzerte statt, erschaffen junge Komponisten neue Musikstücke, und angesehene Musiker und Philosophen teilen ihr Wissen mit den Zuhörern.

 

Ab Oktober 2021 werden die besten Projekte, die an dem musicAeterna Hauptsitz entstanden sind, auf der ganzen Welt aufgeführt. Das Ensemble richtet seine Residenzen in Städten ein, in denen die kreative Energie hoch und Kunst sehr gefragt ist: in New York, Paris, Wien, Hamburg, Tokyo, Berlin, Luzern, Moskau and St. Petersburg. Indem sie regelmässig auftreten, Bildungsprogramme, Musik- und Tanz-Projekte anbieten, werden das musicAeterna Orchester und der musicAeterna Chor in diesen Städten zu einem festen Bestandteil der kulturellen Landschaft.

 

Teodor Currentzis, Dirigent:

— Die musicAeterna Kreativresidenzen verwirklichen unsere Vision von der Zukunft der Kunst. Es ist ein Weg, die Künste zu erneuern, indem die Grenzen zwischen ihnen verwischt werden. In unseren Residenzen tauschen Künstler, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, aber ähnliche Visionen von Schönheit und der Zukunft der Kunst haben, Inspiration und Ideen aus. Dies ermöglicht es uns, uns selbst, die Welt und die Kunst aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, erweitert unseren Horizont und führt zu einem völlig neuen Ergebnis. Sie verändert uns unweigerlich. Und wir möchten, dass auch das Publikum diese Freiheit spürt und diesen Schwung bekommt. Die Residenz ist eine Möglichkeit, in einen Raum der Erkundung und Kommunikation einzutreten. Dies ist das Wesen und der Geist unseres Projekts.

 

Luzern ist die erste internationale Kunstresidenz von musicAeterna. Vom 6. bis 8. Oktober werden Teilnehmer an Meisterklassen, Diskussionsrunden und live-Aufführungen dazu ermutigt, gemeinsam mit den Musikern den kulturellen und historischen Kontext der aufgeführten Stücke zu entdecken und gleichzeitig die in der Musik verborgenen Ausdrucksmöglichkeiten zu erforschen.

 

Am 6. Oktober steht die moderne akademische Musik im Mittelpunkt des Residenz-Programms. Die Choroper Tristia, komponiert von dem Franzosen Philippe Hersant, ist das Hauptereignis am Eröffnungstag. Tristia wurde 2015 geschrieben und basiert auf Gedichten von Gefangenen. Dieses aufrichtige und berührende Werk, in dem es um die Themen Einsamkeit, Reue und Hoffnung geht, wurde im Auftrag von Teodor Currentzis eigens für musicAeterna komponiert. Nach der Uraufführung beim Diaghilev Festival 2016 wurde Tristia auch auf zahlreichen europäischen Bühnen aufgeführt. Die Aufführung in Luzern wird von einer Podiumsdiskussion begleitet. Teodor Currentzis und Philippe Hersant werden gemeinsam an einem Diskurs über Freiheit, den Glauben und das innere Licht teilnehmen. Um die Bedeutung der Oper noch mehr zu vertiefen, werden auch die folgenden Filme gezeigt: Das Wort, eines der besten Werke des dänischen Visionärs der Welt der Kinematografie, Carl Theodor Dreyer, sowie der jüngste Film von Terrence Malick, Ein Verborgenes Leben — ein dokumentarisches Werk über den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des metaphysischen Humanismus.

 

Der zweite Tag der Residenz wird mit einer Meisterklasse von Teodor Currentzis eröffnet. Während der Veranstaltung werden zwei Schweizer Nachwuchsdirigenten gemeinsam mit Teodor Currentzis und dem musicAeterna Orchester einen Abschnitt von Mahlers 5. Sinfonie erarbeiten. Die Sinfonie wird am darauffolgenden Tag in voller Länge aufgeführt. Die Erforschung von Mahlers Musik wird von der holländischen Choreographin Nanine Linning fortgesetzt, deren Arbeit sich auf neue Ausdrucksmöglichkeiten des Konzepts Gesamtkunstwerk konzentriert. Linning wird zwei Meisterklassen leiten: eine für Schweizer professionelle Tänzer, die neue Ausdrucksweisen im modernen Tanz erforschen wollen; die Zweite richtet sich an das breite Publikum. Das Hauptereignis des Tages ist Zehn Poeme nach Worten revolutionärer Dichter von Dmitri Schostakowitsch. Dieser A-cappella Chorzyklus wird von dem musicAeterna Chor unter der Leitung von Fedor Lednev aufgeführt. Am selben Tag werden auch die Gebete aus der Liturgie des heiligen Johannes Chrysostoms von Dmitri Smirnow zu hören sein. Smirnow ist ein zeitgenössischer Komponist aus Sankt Petersburg, der in seinem Werk einen eigenen Blick auf die russischen Chortraditionen richtet. Der Tod in Venedig von Luchino Visconti steht am Ende der Veranstaltungen des zweiten Tages — ein Film, der praktisch untrennbar mit dem Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie verbunden ist.

 

Mahlers 5. Sinfonie wird am 8. Oktober, dem Schlusstag der Residenz, vom musicAeterna Orchester unter der Leitung von Teodor Currentzis aufgeführt. Am selben Abend wird dem Publikum auch Alexey Retinsky vorgestellt, composer in residence bei Dom Radio. Retinsky wird seine neues, speziell für diesen Anlass geschaffene Werk vorstellen. Vor dem Konzert hat das Publikum die Möglichkeit, einzelne Mitglieder des musicAeterna Orchesters kennenzulernen.  Die Musiker werden über Musik im Allgemeinen, über ihre Auffassung anderer Kunstformen und ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit musicAeterna sprechen.

 

Während der Residenz wird auch eine Fotoausstellung der Moskauer Fotografin Alexandra Muravyeva gezeigt. Sie begleitet das musicAeterna Ensemble seit fünf Jahren auf alle Welttourneen.

 

Das detaillierte Residenz-Programm finden Sie auf der KKL Website oder musicAeterna Website. Mehrere Veranstaltungen können Sie auch kostenlos geniessen — Voraussetzung ist lediglich eine Voranmeldung.

 

Das musicAeterna Orchester und der musicAeterna Chor wurden 2004 von Teodor Currentzis gegründet. Die Musiker des Ensembles stammen aus 12 Ländern und 20 verschiedenen Städten in Russland. Das Repertoire umfasst berühmte Meisterwerke aus dem 19ten und 20ten Jahrhundert und experimentelle zeitgenössische Kompositionen. Das musicAeterna Ensemble ist oft bei prestigeträchtigen Festivals zu Gast und spielt in den renommiertesten Konzerthallen auf der ganzen Welt. Seit 2019 ist das musicAeterna Ensemble unabhängig. Der Hauptsitz des Ensembles befindet sich im Dom Radio Gebäude in Sankt Petersburg, Russland. musicAeterna fördert Kreativ- und Bildungsprogramme sowie einzigartige experimentelle und wissenschaftliche Projekte in zahlreichen Bereichen der modernen Kunst.

 

Komplementär: VTB Bank

Partner Stiftung: Alma Mater Stiftung

Luzern Residenz Partner:

Carène Foundation — Co-Sponsor des Tristia Konzerts am 6. Oktober

Albert Behler und Robin Kramer — Sponsoren des Mahler Konzerts am 8. Oktober

 

musicaeterna.org

Facebook | Instagram | YouTube | Twitter

  • Aufrufe: 68

Luzerner Theater King Lear, Première, 30. September, besucht von Max Thürig

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Produktion und Besetzung:
Regie: Heike M. Goetze Bühne und Kostüme: Heike M. Goetze Licht: David Hedinger-Wohnlich Dramaturgie: Dominik Busch
Daniel Nerlich (Lear) Martin Carnevali (Gloucester) Thomas Douglas (Narr) Christian Baumbach (Kent) Sebastian Schulze (Edmund) Hugo Tiedje (Edgar) Zoe Hutmacher (Goneril) Dagna Litzenberger Vinet (Regan) Marta Rosa (Cordelia) Max Rüfle (Alter Mann, Statist)

Der Herbst zeigt sich bereits in den kräftigsten Farben, lässt das Grün so intensiv erscheinen, dass ich mich in Irland wähne und meine Gedanken um all das Schöne, das sich mir in meinem Umfeld bietet, kreisen. Für heute steht ein Besuch im Luzerner Theater zu William Shakespeare’s Stück «KING LEAR» an.

Schon geerbt? Nein? …dann sehe ich SCHWARZ…

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Dieses sehr imposante Werk – um nicht zu sagen dieser Koloss – vom grossen Meister um 1600 geschrieben, feiert Premiere! Mit dem Inhalt des Stückes vertraut, bin ich gespannt, wie die Truppe unter der Regie von Heike M Goetze, die gewählte Neuübertragung von Miroslava Svolikova umsetzt.

 

 

 

Lockdown und seine möglichen Folgen

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Um in den Genuss dieser Aufführung zu gelangen, musste ich mich der Zertifikatspflicht unterziehen. Zeigte sich hier nicht eine erste Parallele zu Shakespears Stück? Grassierten in dieser Zeit nicht Pestzüge in Europa und schickten die Menschen auch in eine Art Lockdown? Will heissen, dass auch damals aus Angst vor Ansteckungen soziale Kontakte reduziert wurden und die Gesellschaft prägten, veränderten?

 

 

 

Schwarz dominiert

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Gleich von Beginn an werde ich in den Bann der Geschichte gezogen. Düster, wenig Licht und wenn Licht, dann für sehr ausgewählte Szenerien, so versuche ich dem Geschehen zu folgen. Nichts erinnert mich an meine Eindrücke der kräftigen Herbstfarben. Im Gegenteil: Schwarz und Leder dominieren und verleihen der Szenerie etwas Gespenstisches, Surreales! Schon mit den ersten Sätzen Lears zeigen sich liebgewonnene Eigenschaften des Menschen: Macht, Ansehen und geliebt werden!

 

 

 

 

 

 

Macht ist geil…

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Anfänglich etwas irritiert, dass der «alte König» mit einer im besten Alter lebenden Person UND seinem Spiegelbild als alten Mann dargestellt wurde, mache ich mir erste Gedanken über Machtansprüche und Machtabgabe in unserem Leben. Wann ist der richtige Zeitpunkt seine Macht abzulegen? Als Mensch habe ich ja die Möglichkeit, mich in die Vergangenheit zu begeben, Lehren zu ziehen, daraus Strategien abzuleiten, wie es in Zukunft weitergehen soll und so eigentlich auch meinen Abgang und die Stabsübergabe zu planen. Doch will das der Mensch überhaupt? Oder ist er schlicht zu verliebt in all die Möglichkeiten damit zu «spielen»? So ertappe ich mich im momentanen Zeitgeschehen, welches sich im Grundsatz nur sehr wenig von den damaligen überzeugten Herrschern wie er von King Lear dargestellt wird, unterscheidet. Da fallen mir die Namen vieler Weltpolitiker ein, die so von sich überzeugt sind, dass sie den Anspruch auf Unersetzlichkeit reklamieren…

Abgründe des Menschen werden sicht- und schmerzlich spürbar

King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn
King Lear Szenenfoto von Ingo Hoehn

Das Stück nimmt weiter Fahrt auf, zeigt die zerstörerische Kraft des Geliebtsein-Wollens indem die Hauptfigur seine Lieblingstochter, die ihm vordergründig die Liebe verweigert, verdammt und sie so letztlich in den Tod stösst. Durch die Aufteilung seines Reiches unter die beiden ältesten Töchter begibt er sich unbemerkt in deren Abhängigkeit und muss erleben, dass er letztlich alles verliert und in den Wahnsinn getrieben wird.
Gleichzeitig erlebe ich in einer Parallelhandlung wie in der Familie des Grafes Glosters, einem alten Vertrauten Lears, weitere Intrigen, angetrieben vom unehelichen Sohn Edmund, vorangetrieben werden. Die Klaviatur des Täuschens, der fake News und der Ausnützung der Beteiligten wird in Perfektion gespielt und führt mir vor Augen, wozu der Mensch fähig sein kann, wenn er von seinen Wahnideen besessen ist. Dass Graf Gloster  erst nach der Beraubung seines Augenlichts realisiert, dass er nun sehend ist und feststellen muss, dass er auf die falschen Freunde und Personen gesetzt hat lässt mich sehr nachdenklich werden. Getoppt wird das Ganze dann noch durch die Vergiftung Regans durch ihre Schwester Goneril!

Zu späte Einsicht

Vollends düster wird es dann, als der sterbende Edmund sein schlechtes Gewissen beruhigen möchte und versucht, seinen Tötungsauftrag für Gordelia und Lear rückgängig zu machen, was scheitert. Für beide kommt dieses Ansinnen zu spät…

Shakespears Tragödie führte mich in die dunkelsten Abgründe des Menschen. Sie zeigt Menschen, die den Vergleich eines Tieres auf zwei Beinen rechtfertigen. Zum Glück spielt die Geschichte aber in einer Zeit, die längst der Vergangenheit angehört…. Oder lassen sich da nicht auffällig viele Parallelen zum Hier und Jetzt ziehen? Beeindruckt von der schauspielerischen Leistung aber nachdenklich über das Gesehene verlasse ich diese reale Kunstwelt und freue mich, wenn ich mit meinen Augen «sehend» das Leben erfahren darf!

Text: Max Thürig https://maxthuerig.ch/ https://www.wildwaldwalk.ch/

Fotos: www.luzernertheater.ch  Ingo Hoehn

Homepages der andern Kolumnisten:  www.noemiefelber.ch

www.gabrielabucher.ch  www.herberthuber.ch

www.leonardwuest.ch

  • Aufrufe: 162

Bamberger Symphoniker | Jakub Hrůša | Juliane Banse | Ilya Gringolts. KKL Luzern, 6.9.2021, besucht von Léonard Wüst

Bamberger Symphoniker
Bamberger Symphoniker

Besetzung und Programm:
Bamberger Symphoniker
Jakub Hrůša  Dirigent
Juliane Banse  Sopran
Ilya Gringolts  Violine

 
Iris Szeghy (*1956)
Offertorium für Sopran und Orchester nach einem Gedicht von Emily Dickinson
Uraufführung
Beat Furrer (*1954)
Konzert für Violine und Orchester
Schweizer Erstaufführung
Miroslav Srnka (*1975)
move 01-04 für Orchester
Erste Gesamtaufführung aller bestehenden Teile (move 01-03 in revidierten Fassungen, Erstaufführungen)

Die Orchestermitglieder hatten sich auf der Bühne eingerichtet und stimmten ihre Instrumente, bevor sich Juliane Banse, die in Zürich aufgewachsene Sopranistin und der 1981 im tschechischen Brno geborene Dirigent Jakub Hrůša dazugesellten, beide mit «Coronamaske» dekoriert., wie sie auch die ca. 900 Besucher tragen mussten. Im Konzertsaal anwesend waren auch, nebst Festivalintendant Michael Häfliger, Komponist*innen zeitgenössischer Musik, u.a. Wolfgang Riehm und die drei Schöpfer*innen der an diesem Abend aufzuführenden Werke.

Offertorium für Sopran und Orchester nach einem Gedicht von Emily Dickinson Uraufführung

Juliane Banse Sopran Foto Elsa Okazaki
Juliane Banse Sopran Foto Elsa Okazaki

Unter Offertorium versteht man den liturgischen Gesang zur Gabenbereitung bei der heiligen Messe. Musikalisch charakterisiert Iris Szeghy ihr Werk als «eine ruhig fliessende, aber dennoch expressive Meditation mit ein paar kleinen Steigerungen». Dynamisch sehr zurückgenommen, das Stück beginnt im dreifachen Piano und endet ebenso leise sind es auch hier die verhaltenen Töne, die vorherrschen. Der Orchestersatz erscheint konzentriert, äusserst dicht gearbeitet mit einem stark polyphonen Liniengeflecht, das den Fluss der melodischen Linie nie überdeckt, sondern meist zart und einfühlsam kontrapunktiert.

Bewegende Uraufführung

Ursprünglich sollte bei Lucerne Festival ihr 2018 vollendetes Requiem für Solisten, gemischten Chor und Orchester zur Uraufführung kommen, ihre bislang umfangreichste Komposition. Doch da pandemiebedingt auf den Einsatz von Chören verzichtet werden muss, hat Szeghy den vierten Satz, das Offertorium, zu einem selbständigen Werk ausgearbeitet. Das Stück basiert auf einem Gedicht von Emily Dickinson, das die Botschaft des herkömmlichen Offertoriums aus der lateinischen Totenmesse gewissermassen auf den Kopf stellt. Wird dort um den Schutz der Seele eines Verstorbenen gebeten, so beschreibt die amerikanische Dichterin dagegen eine Situation von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit: den erfolglosen Versuch, bei Jesus Aufnahme zu finden.

Fast schon eine sakrale Darbietung

Die Sopranistin intonierte das feierliche Werk äusserst einfühlsam, streichelte die Noten sanft mit ihrem weichen Timbre, ohne dabei energielos zu wirken. Das relativ gross besetzte Orchester unterstützte sie dabei sehr zurückhaltend und behutsam, unter dem diskreten Dirigat ihres tschechischen Leiters. Das Auditorium belohnt dieses fast sakrale Tongemälde mit ausgiebigem Applaus und Bravorufen, den auch die auf die Bühne geholte Komponistin geniessen durfte.

Beat Furrer Konzert für Violine und Orchester Schweizer Erstaufführung

Beat Furrer, der Erfinder der Eruption
Beat Furrer, der Erfinder der Eruption

Der gebürtige Schaffhauser Furrer nennt sein komponieren: ‹Musik denken›. Klang ist natürlich ein physisches Ereignis, es gibt eine konkrete Vorstellung von Klang. Aber es gibt eben auch ein Denken darüber, den Versuch, das zu fassen. Und Denken geschieht ja mittels der Sprache. Das ist ein Grenzbereich. Furrer weiter:  ‹Musik denken› ist vielleicht etwas zwischen formal logischem Denken und Klang erleben. Ich glaube, das ausgetüfteltste formale Konzept wäre ohne das physische Erfahren von Klang völlig wertlos.» Doch auch Stille hat bei Furrer ihren Platz: «Jedes Verklingen eines Tones ist bereits ein Drama für sich», erklärt er. Dieses Erfahren von Klang ist für Furrer allerdings keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Innehalten, Nachhorchen, Neuansetzen, Verharren — das sind typische Verfahrensweisen in seinem Umgang mit musikalischem Material.

 

 

Komposition für den Geiger Ilya Gringolts

Ilya Gringolts war Solist in Beat Furrers Violinkonzert
Ilya Gringolts war Solist in Beat Furrers Violinkonzert

Dieses Werk schuf  Furrer für den Solisten Ilya Gringolts, der es zusammen mit dem Münchener Kammerorchester am 15. Oktober 2020 im Prinzregententheater unter der Leitung von Clemens Schuldt in der bayerischen Hauptstadt uraufführte. Der erste, zehnminütige Satz besitzt eine Bogenform, die vom Nahezu-Stillstand und einem harmonischen Schweben mit einer faszinierenden, oftmals geräuschhaften Struktur in die Getragenheit zurückkehrt, während der Mittelteil der Geige bewegte, fast “klassische” Figurationen erlaubt, die beinahe erzählerischen Charakter besitzen. Der siebenminütige zweite Satz ist eine vielfältig schillernde, ungemein spannende Eruption, und die letzten drei Minuten haben die Funktion einer Coda.

Jeder Ton, jede Harmonie, alles Mikrotonale und jedes Glissando haben in diesem Werk seinen exakten Platz. Die Präzision und Intensität, mit der die Bamberger und der technisch wie musikalisch absolut souveräne Ilya Gringolts die Partitur durch-leuchten und zum Ereignis machen, lässt dem Hörer keinen Augenblick des Abschweifens. So unmittelbar und zwingend muss zeitgenössische Musik sein.

Die ungewohnten Töne irritierten zwar etwas das harmoniesüchtige Musikgehirn der meisten Zuhörer, denen Mozart doch näher ist als etwa Schönberg oder Stockhausen, aber der furiose Applaus und viele Bravorufe bezeugten, dass das Auditorium sehr wohl auch «neue» Musik zu schätzen und würdigen weiss. Auch Komponist Beat Furrer betrat die Bühne und wurde klatschend gefeiert.

Miroslav Srnka move 01-04 für Orchester. Erste Gesamtaufführung aller bestehenden Teile (move 01-03 in revidierten Fassungen, Erstaufführungen)

«In moves», so Srnka, «verfolge ich das Konzept eines organischen Klangstroms in einem raffiniert kontrollierten Strukturnetz, das auf einer Kurve aus der Vektorbeschreibung basiert, die von den französischen Mathematikern Pierre Bézier und Paul de Casteljau für das Design französischer Autokarosserien entwickelt wurde.

Näheres zum Komponisten

Miroslav Srnka
Miroslav Srnka

Seine Oper South Pole, uraufgeführt 2016 an der Bayerischen Staatsoper München unter Kirill Petrenko, inszeniert von Hans Neuenfels und mit Rolando Villazón und Thomas Hampson in den Titelrollen, brachte Miroslav Srnka den internationalen Durchbruch. Bereits zuvor wurde er mit bedeutenden Kompositionsaufträgen und Preisen, u.a. dem Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung 2009, ausgezeichnet Bewegung deutet der Prager Komponist  in seinem vierteiligen Werk nicht nur musikalisch, sondern auch physisch – als Spielbewegung der Musiker. Die Struktur für ein Werk müsse sich ein Komponist heute selbst vorgeben, sagt Srnka.

 

 

Jakub Hrůša dirigiert die Bamberger Symphoniker  Foto Patrick Hürlimann
Jakub Hrůša dirigiert die Bamberger Symphoniker Foto Patrick Hürlimann

Die Doppeldeutigkeit von «move», also Bewegung, erläutert er so: «Die erste Deutung liegt in der Bewegung als Struktur: Mit musikalischen Mitteln, beispielsweise mit der Gestalt eines polyphonen Schwarms, wird eine bewegte, changierende dreidimensionale Struktur suggeriert, die etwa an Vogelschwärme erinnert. Die zweite Deutung bezieht sich auf die Bewegungen der Musiker*innen, mit denen sie physisch den Klang erzeugen.»Die Partitur lässt das Orchester  akustische  Vogelschwärme unorthodox durch den Saal schwirren, vielschichtig und ungeordnet, aber nicht disziplinlos. Eine äusserst eigenwillige, spannende Komposition, fernab ausgetrampelter, konventioneller und traditioneller Vorgaben. Jakub Hrůša dirigierte das Werk ganz im Sinne des Komponisten, mit vollem Körpereinsatz und totaler Emotionalität, was besonders beim Finale durchschlug.Ich kenne kein anderes zeitgenössisches Werk, das auch nur annähernd ein solch dramatisches, aufwühlendes Finale hat. Das war ein ununterbrochenes tonales Petting, das in einem akustischen Orgasmus explodierte.  Dirigent Jakub Hrůša liess sich ungehemmt mitreissen, juckte und sprang auf seinem Podium auf und ab.

Dass zeitgenössische Musik, so souverän vorgetragen, begeistert, bezeugten, nebst dem stürmischen Applaus jeweils am Ende der Werke, auch die Bravorufe, die ebendiese garnierten.

Live Stream: «räsonanz» – Donor Concert
Lucerne Festival – Summer Festival 2021
 

https://www.facebook.com/lucernefestival/videos/4050762635051289

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch  Peter Fischli und Priska Ketterer

Homepages der andern Kolumnisten:  www.noemiefelber.ch

www.gabrielabucher.ch  www.herberthuber.ch

  • Aufrufe: 66