adattamento teatrale Flavio Stroppini e Monica De Benedictis regia Flavio Stroppini |con Margherita Saltamacchia e Rocco Schira | scena video Monica De Benedictis | grafica animata Mauro Macella | light design Marzio Picchetti (assistente Pietro Maspero) | musiche originali Andrea Manzoni (eseguite con Matilda Colliard e Martino Pini; mix musiche Valerio Mina) | nebbia in scena a cura di Nephos | sarta di scena Arianna Cortese | allestimento tecnico Alexander Budd | produttore Gianfranco Helbling | produzione Teatro Sociale Bellinzona – Bellinzona Teatro | in coproduzione con Nucleomeccanico.com, 2020
Olocene Szenenfoto von Valerio Casanova
Mit ‘Olocene’ im Teatro Foce Lugano präsentiert der Regisseur Flavio Stroppini Max Frisch’ ‚Der Mensch erscheint im Holozän’. Wie bereits 2021 im Teatro Sociale Bellinzona mit den Videos von Monica De Benedictis, der Graphik von Mauro Macella und dem Light Design von Marzio Picchetti. Es handelt sich um die erste Bühnenfassung dieser Erzählung auf italienisch (Uebersetzung von Bruna Bianchi für den Verlag Einaudi,Torino).
Max Frisch’ gleichnishaftes Werk
Olocene Szenenfoto von Valerio Casanova
‘Der Mensch erscheint im Holozän’ ist ein gleichnishaftes Werk, das Max Frisch als “sein gelungenstes und vollkommenstes“ bezeichnete. Die Erzählung ist mindestens zum Teil biographisch – auch er hatte sich für seinen Lebensabend in ein Tessiner Bergdorf zurückgezogen –, und sehr persönlich sind auch die vom Autor angepackten Themen. Zum Beispiel die Einsamkeit und die unvermeidbaren Gedächtnisprobleme im Alter, sowie Sterblichkeit und Irrilevanz des Menschen.
Ein beunruhigendes Szenario
Olocene Szenenfoto von Valerio Casanova
Nachdem ein Bergrutsch ein kleines Tessiner Dorf von der Umwelt total abgeschnitten hat, und während es draussen in Strömen regnet, versucht Herr Geiser, ein 74jähriger Witwer, der sich nach seiner Pensionierung im Tal niedergelassen hat, ständig aber vergebens eine Pagode aus Crackers zu bauen. Was könnte er sonst noch tun? Sicher frenetisch aber systematisch lesen, um sich dann Notizen zu machen und sein Zuhause mit Passagen aus Lexika oder aus der Bibel zu bekleben. Ihn interessieren besonders Informationen aus Wanderführern, welche Geschichte und Geologie des Tessins betreffen, Einträge zu den verschiedenen Donnerarten – er ist imstande, mehr als sechzehn Arten zu erwähnen – und zu Dinosauriern. Kontakt mit anderen Dorfbewohnern sucht er nicht, er kann nur ein wenig Italienisch, geschweige denn den Dialekt des Tals.
Der Kampf mit der Natur
Margherita Saltamacchia und Rocco Schira als Tochter Corinne und Herr Geiser
Im Grunde ist Geisers Leben ein Kampf nicht nur mit der Natur draussen geworden, sondern auch mit seiner eigenen. Ja, die Naturgewalt konfrontiert ihn eben mit seiner eigenen Belanglosigkeit – der Mensch taucht ja erst im Holozän auf. Total auf sich gestellt, im Rausch des Sammelns ganz verloren, versucht er seiner Existenz, mehr, seinem eigenen Dasein einen Sinn zu geben. Sogar als er einmal sein Haus verlässt, um ein Blick ins Tal zu werfen und herumzuwandern bis er Schmerzen in den Beinen verspürt, verbessern sich die konfusen Gedanken und Empfindungen nicht.
Eine doppelte Erosion
Beschrieben wird eine langsame, doppelte Erosion, nicht nur des Berges, sondern auch von Geisers Denkvermögen. Die schleichende Erosion in der Natur wiederholt sich in seiner Persönlichkeit: mit Kraft, wenn auch vergebens, versucht er gegen das Chaos in seinem Garten sowie in seinem Hirn zu kämpfen, alles scheint jedoch zu zerbröckeln. Nur, das Dorf kann wieder aufgebaut werden, nicht aber sein Denkvermögen. Er ist nicht einmal mehr imstande, die Übersicht über all die Notizen zu bewahren; er wird immer vergesslicher, ja die Wetterkatastrophe ist nicht schmerzlicher als sein Gedächtnisverlust.
Die grossartige Leistung der Schauspieler
Am Ende bleiben nur tote Blätter
Während auf der Bühne die verschiedenen kleinen Räume des Hauses zu sehen waren, während die toten Blätter am Boden die unsichtbaren Zettel an den Wänden fast symbolisierten, beeindruckten Rocco Schira in der Rolle des Herrn Geiser und Margherita Saltamacchia als seine Tochter Corinne. Der Schauspieler verkörperte einen noch jugendhaften Geiser, am Anfang eher verhalten, dann immer energischer, zum Bespiel, als er die Tochter fragte, weswegen sie ihn wie ein kleines Kind behandelt; voller Freude, hingegen, als er die zahlreichen Donnerarten auflistete. Die Schauspielerin stellte eine melancholische und resignierte dennoch starke Figur dar, die wie der Chor in einer alten Tragödie wirkte. Man war von Anfang an im Banne der sich kreuzenden Monologe von Vater und Tochter, mal so nahe, mal so distant voneinander. Ja, immer als ob Energie und Melancholie im Kampf gegeneinander wären.
Eine frühere Bühnenfassung in Luzern
Wir erinnern uns übrigens an eine frühere hochemotionale Inszenierung von ‘Der Mensch erscheint im Holozän’, jene von Felix Rothenhäusler am Luzerner Theater in 2017: eine Aufführung, die mit eloquenten Passagen der Zehnten von Mahler endete. In Lugano gaben das Cello von Matilda Colliard und die Gitarre von Martino Pini (Musik von Andrea Manzoni) der Interpretation einen manchmal fast zu scharfen Rhythmus.
Das Luganese Publikum bedankte sich mit einem langen, herzlichen Applaus
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) Ein Sommernachtstraum op. 61 (Auszüge)
George Templeton Strong (1856 – 1948 Genf) Le Livre d’Images, Suite Nr. 3
Grundsätzliches zum Orchester ab Homepage Swiss Orchestra :
Swiss Orchestra Foto by Valentin Luthiger
Die Schweiz ist für vieles berühmt, aber kaum für ihre Sinfonik. Schweizer Komponist*innen der Klassik und Romantik fristen ein Schattendasein – und das im eigenen Land wie auch weltweit. Das Swiss Orchestra will Schweizer Werke hörbar und ihre Schöpfer*innen sichtbar machen und strebt nichts weniger als eine Renaissance der Schweizer Sinfonik an.
Antonio Vivaldi (1678 – 1741) Concerto Grosso a-Moll RV 356 op. 3 Nr. 6
Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer
Die Streicher*innen waren aufgereiht, die Dirigentin auf dem Pult, das sie plötzlich unvermittelt wieder verliess, kurzes Erstaunen beim Publikum, machsichtiges, wissendes Lächeln auf den Gesichtern der Musiker*innen. Dann hörte es man es selber auch: ein leichtes summen/sirren der Klimaanlage hatte Lena – Lisa Wüsterdörfer irritiert und, ja, etwas erbost, weshalb sie hinter der Bühne die nötigen Anweisungen erteilte, dieses Problem zu eliminieren. Als die Angelegenheit erledigt, das Problem gelöst war, nahm die Dirigentin wieder ihren angestammten Platz ein und startete mit dem Vivaldi – Stück in den Konzertabend.
Vivaldis Vorliebe für die Improvisation
Lena Lisa Wüstendörfer leitet das Swiss orchestra
Die große Rolle, die die Improvisation in Konzertaufführungen des 18. Jahrhunderts spielte – insbesondere bei der „Verzierung“ der Solostimmen und der Ausführung des Continuo – hinterlässt für den modernen Spieler viele Probleme. Die wenigen Beweise, die wir von Vivaldis Praxis haben, deuten darauf hin, dass er, wo er eine aufwändige solistische Dekoration benötigte, dies anzeigte (wie in den verschwenderischen langsamen Sätzen von V, VI und IX) oder die Konvention einer Corona verwendete, um einen vorübergehenden Halt anzuzeigen für eine Kadenz. An anderer Stelle scheint Johann Joachim Quantz’ (dem Flötenlehrer Friedrich des Großen) Rat am treffendsten: „Man sollte es vermeiden, die lyrischen Ideen zu variieren, deren man nicht so schnell müde wird, und ebenso die brillanten Passagen, die selbst eine ausreichend angenehme Melodie haben. Man sollte nur solche Ideen variieren, die keinen großen Eindruck machen. Und am treffendsten für den langsamen Satz von sagt er: „Ein Siciliano sollte sehr einfach gespielt werden, mit kaum Trillern und nicht zu langsam. Man sollte hier außer einigen Appogiaturen nicht viele andere Verzierungen verwenden, weil es sich um eine Nachahmung eines sizilianischen Hirtentanzes handelt. In Bezug auf das improvisierte Continuo-Element bestätigen zwei Fragmente einer von Vivaldi selbst geschriebenen Realisierung die Ansicht, dass die Italiener das Continuo eher als Hintergrundunterstützung der Harmonie denn als Vordergrundkonkurrent des Solisten betrachteten.
Möglicherweise, wahrscheinlich sogar, hat der Solist des Werkes an diesem Abend, Konzertmeister Shemiyaz Mussakhan aus Kasachstan, Kenntnis von Quantz Annahme und spielte das Stück in dessen und der Dirigentin Sinn, unglaublich präzis, auch in schwierigsten Sequenzen der Partitur, hochkonzentriert, trotzdem nicht verkrampft, immer bestens unterstützt von seinen Orchestergspänli, die, da Vivaldi- Werk, noch ohne die Bläser – und Schlagwerksektion, auf der Bühne waren.
Ein typisches Vivaldi Werk mit sehr vielen Läufen, haufenweise Kapriolen und Stolpersteinen, technisch unglaublich anspruchsvoll, musikalisch herausfordernd. All diese Klippen meistere der Violinist sehr souverän und die Ausführenden wurden vom Auditorium mit dementsprechendem Applaus bedacht.
Wie die Dirigentin vorab kurz erläuterte, spiele man das Konzert mit gleichen Werken wie bei der seinerzeitigen Uraufführung, die 1921 vom Widmungsträger Adolf Busch gespielt wurde, dieses spätromantische A-Dur-Werk von Hermann Suter, dessen lichtdurchflutete, von naturhafter Lyrik erfüllte Ecksätze ein düsteres, autobiografisch gefärbtes Tempestoso umschließen.
An diesem Abend war Michael Barenboim als Gastsolist verpflichtet um Suters Werk den nötigen Glanz zu verleihen, wobei ich mir sicher bin, dass Konzertmeister Shemiyaz Mussakhan den hohen Anforderungen auch gerecht geworden wäre, wie wir ja anschaulich, respektive anhörlich, bei der vorherigen Vivaldi Komposition feststellen konnten.
Glanzvolle Interpretation eines etwas vergessen gegangenen Meisterwerks
Nach einem sanften Einstreicheln begrüsst den Zuhörer eine vorwitzige Oboe, zu der sich die anderen Bläser gesellen und alles mündet schlussendlich in ein kräftiges, aber nicht aufbrausendes Tutti. Aus dem lösen sich anschliessend die Streicher wieder und werden dann von den Bläsern «überflogen».
Suter mit Vorwärtsdrang
Michael Barenboim Solist Violine.
Später, nach ungefähr einem Drittel der Spielzeit, geht’s forsch, fast marschartig vorwärtstreibend weiter, mit Fanfaren, Pauken usw. was eben so zu einem rassigen Marsch dazu gehört. Der Schweizer Komponist, respektive das von Lena Lisa Wüstendörfer souverän und bestimmt durch die Partitur geleitete «Swiss Orchestra», lässt es ab und zu auch mal richtig «krachen», was dem, eher ländlichen Publikum im schönen Berner Casino Konzertsaal, natürlich ausnehmend gut gefällt.
Rossini und S’Vreneli lassen grüssen
Suter erweist in einer späteren Sequenz kurz Rossinis Wilhelm Tell Ouvertüre die Referenz und zitiert gegen Ende, nach ungefähr 40 Minuten, das alte Berner Volkslied «S’ Vreneli abem Guggisberg».
Gastsolist Barenboim Philosoph mit der Violine
Solist Michael Barenboim Foto Marcus Hoehn
Über all dem schwebt der Solist mit dem «Sologesang» seiner Geige, setzt da einen furiosen Lauf, da ein filigranes Tremolo, haucht da ein zartes Vibrato hin, bewegt sich technisch brillant und bombensicher auf dem Klangteppich, den ihm das Orchester legt. Michael Barenboim wurde auch schon mal als Philosoph mit der Geige betitelt, spricht vier Sprachen und hat tatsächlich auch zwei Semester Philosophie an der Pariser Sorbonne studiert, bevor er sich ganz der Musik verschrieb. Die Künstler wurden vom Publikum mit einem stürmischen, langanhaltenden Applaus bedacht und wiederholt auf die Bühne zurück geklatscht, sodass schlussendlich Barenboim nicht umhin kam, eine kurze virtuose Zugabe zu gewähren, was ihm prompt eine grossen Extraapplaus einbrachte, bevor man sich zufrieden in die Foyers zur Pause begab.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) Sommernachtstraum op 61(Auszüge)
Zur Komposition
Mendelssohn komponierte die Ouvertüre zunächst für Klavier zu vier Händen. In dieser Version spielte er sie oft zusammen mit seiner Schwester Fanny,
Lena-Lisa Wüstendörfer feilt an jedem Detail.
Das Werk verbreitete sich schnell in Europa und stand bereits 1830 in einem New Yorker Konzert auf dem Programm. 1843 war die Ouvertüre längst allgemein bekannt und da Shakespeares Bühnenstück in der Regel mit Mendelssohns Musik aufgeführt wurde, reichte der Komponist, beauftragt von König Friedrich Wilhelm IV., die komplette Schauspielmusik op. 61 nach. Bei der Komposition der einzelnen Stücke, von denen vor allem das Scherzo und der Hochzeitsmarsch berühmt wurden, orientierte sich Mendelssohn an seiner 17 Jahre älteren Ouvertüre, zu der er die Schauspielmusik in stilistischer Einheit schuf.
Der Auftakt mit den ebenso berühmten, wie berüchtigten liegenden Holzbläserakkorden kein Problem für die Bläser*innen des Residenzorchesters der Andermatt Concert Hall, ebenso wenig wie die nachfolgenden Höchstschwierigkeiten für das gesamte Ensemble.
Die Elfen tanzen durch den Saal
Die Protagonist*innen auf der Bühne lassen scherzhaft neckisch die Elfen durch den Saal tanzen, Zu Beginn ist hier alles federleicht und filigran, die Künstler agieren phonetisch zurückhaltend, ergänzen sich bestens und harmonieren vorzüglich.
Stilvoll ausbalanciertes Musizieren
Ein feines, transparent und wunderbar ausbalanciertes Musizieren, man spürt den Enthusiasmus der Dirigentin, der sich auch auf das Orchester überträgt. Diese Interpretation zeichnet sich durch großen Atem und nicht nachlassende Intensität aus.
Perfekte Umsetzung von Mendelssohns Intentionen
Lena Lisa Wüstendörfer leitet das Swiss orchestra.
Die tonale Umsetzung des Shakespeare Stoffes zeichnet die Geschichte der Elfenkönige Oberon und Titania mit ihrem ganzen Volke nach, die fortwährend im Stück erscheinen, bald hier bald dort; dann kommt Herzog Theseus von Athen und geht mit seiner Braut in den Wald auf die Jagd, dann zwei zarte Liebespaare, die sich verlieren und wiederfinden, dann wieder die Elfen, die sie alle necken – und daraus baut sich eben das Stück. Wenn sich am Ende alles gut gelöst hat und die Hauptpersonen glücklich und in Freuden abtreten, so kommen die Elfen ihnen nach, segnen das Haus und verschwinden, wenn es Morgen wird. So endet Shakespeares Schauspiel und auch Mendelssohns kraftvolle Ouvertüre.
George Templeton Strong (1856 – 1948 Genf) Le Livre d’Images, Suite Nr. 3
Der 1856 in New York geborene Komponist liess sich 1888 am Genfersee nieder und verschied im hohen Alter von 92 Jahren in Genf Da er die meiste Zeit auch dort gelebt hatte, vereinnahmen ihn dessen Bürger als Genfer Komponisten, wie uns die Dirigentin wissen liess.
Die Komposition, obwohl mir fremd, tönte trotzdem irgendwie bekannt, war brav im Stil der seinerzeitigen Epoche gehalten, überraschte aber dennoch durch ihre Ausgewogenheit und Transparenz.
Eher ungewohnte Töne zum Schluss
Die Musikerinnen geniessen den Applaus Foto Hermine Tschopp
Das Auditorium «fremdelte» irgendwie, war diese Art Musik, halt kein Brahms, Schumann, Schuber, gar Mozart, nicht gewohnt da natürlich auch nicht oft in audio- und visuellen Medien präsent. Ein Konzertabschluss, der aber dem Credo der Dirigentin entspricht, nicht unbedingt mit abgedroschenen «Gassenhauern» punkten zu wollen.
Der dennoch sehr lange Schlussapplaus dürfte sie und ihre Mitmusiker*innen in ihrem Vertrauen auf musikalische Qualität einmal mehr bestätigt haben.
Produktion und Besetzung: Choreografie –Yabin Wang Musikalische Leitung –Jesse Wong Bühne und Kostüme –Sascha Thomsen Licht –Clemens Gorzella Dramaturgie –Wanda Puvogel TanzLuzern Luzerner Sinfonieorchester
Am Freitag, 5. Mai wurde am Luzerner Theater das Ballett «Swan – a Different Story» der chinesischen Choreografin Yabin Wang uraufgeführt.
Swan Szenenfoto von Ingo Hoehn
Tschaikowskis Schwanensee und Frankenstein in einem Ballett zusammengeführt? Ob das gut gehen kann? Die Dramaturgin Wanda Puvogel mindestens schien überzeugt und erklärte in ihrer Einführung, es passe perfekt zusammen! Aber ob das Premieren-Publikum dies auch so sehen würde?
Eins vorweg: Ja, auch das Publikum sah es so. Dank Yabin Wang, in Asien Starchoreografin aber hier noch relativ unbekannt, erlebte ein ausverkauftes Haus eine völlig neue Version des Balletts Schwanensee. Als Ausgangspunkt ihrer Choreografie dienten Wang die von Jesse Wong (musikalische Leitung) ausgesuchten Ausschnitte aus Pjotr I. Tschaikowskis «Schwanensee»-Partitur. Was dazu auf der Bühne passierte, hatte nichts mit der üblichen Geschichte zu tun. Keine Schwäne, kein Prinz, keine Tutus, keine Spitzentanzschuhe, und trotzdem, für einige vielleicht gerade darum, ein berauschendes Erlebnis. Man staunt, geniesst, leidet, lacht, ist berührt. «Es hat einfach alles gestimmt» schwärmte eine Besucherin begeistert nach der Aufführung.
Hochaktuelles Sujet
Swan Szenenfoto von Ingo Hoehn
Yabin Wang erzählt in ihrem Ballett die Handlung des Romans «Frankenstein» von Mary Shelley und gleichzeitig auch die Lebensgeschichte der Autorin. Die beiden Ebenen überlagern und verweben sich, mal ist man mit den Shelleys und Lord Byron in der Villa am Genfersee, mal in der Werkstatt von Frankenstein und immer wieder beobachtet Mary Shelley (Valeria Marangelli) als «Zuschauerin» das Geschehen auf der Bühne. Wang erklärte in einem Interview, zu der ungewöhnlichen Paarung der beiden Geschichten sei es gekommen, weil sie finde, das Frankenstein-Sujet sei hochaktuell und sie zwischen dem Spiel mit Weiss und Schwarz und Gut und Böse gewisse Parallelen zwischen «Schwanensee» und «Frankenstein» sehe.
Eindrückliche Bilder
Swan Szenenfoto von Ingo Hoehn
Wohl jeder Ballettliebhaber hat die weltberühmten Bilder aus Schwanensee vor Augen. Diese werden aber nach der Aufführung in Luzern künftig von anderen überlagert sein: Bilder von magischer Kraft, farbenfroh, manchmal märchenhaft, manchmal dämonisch, emotional, amüsant, tieftraurig. Ab und an wird man an die eigene Kindheit erinnert: Mary und Percy Shelley und Lord Byron, anfänglich vor gleissend weissen Wänden und in hautfarbenen, engen Trikots mit perfekt sitzenden Perücken haben etwas von den früher beliebten Bakelit-Puppen. Und wenn Frankensteins Helfer mit ihren identischen graumelierten Perücken taumelnd, trippelnd und stolpernd in die Werkstatt kommen, ihre schwarzen Umrisse vor leuchtend-rotem Hintergrund, erinnert dies an Zeichnungen aus dem Kinderbuch Struwwelpeter.
Swan Szenenfoto von Ingo Hoehn
Die verschiedenen Szenen könnten nicht unterschiedlicher sein: Mal das skurrile Ballett der kopflosen, neonfarbenen Mäntel, mal die ersten, linkischen Bewegungen der langsam zum Leben erwachenden Kreatur (ein genialer Tanaka Roki), unkoordiniert, Beine, die einknicken, Füsse, die sich verbiegen, schlenkernde Arme, sich windender Torso, oder Frankenstein (Flavio Quisisana), der mit seiner sterbenden Frau Elisabeth (Phoebe Jewitt) einen letzten Pas-de-deux tanzt.
Perfekte Symbiose zwischen Musik und Bewegung
Swan Szenenfoto von Ingo Hoehn
Die Lichttechnik geht Hand in Hand mit dem minimal gehaltenen Bühnenbild (Bühne, Kostüme und Licht: Sascha Thomsen). Wechselnde Farben betonen die Stimmung der jeweiligen Szenen, alles geht perfekt ineinander über. Das Orchester interpretiert schwungvoll, melancholisch, gefühlvoll die teilweise schon fast Ohrwurm-mässigen Stücke Tschaikowskis. Frankenstein und Elizabeth geben ein wunderbar zartes Liebes- und Ehepaar, die Kreatur ist schlichtweg grossartig aber auch das ganze übrige Ensemble überzeugt; virtuos, athletisch, ausdrucksstark bis in die Mimik. Und die Bewegungen sind so abgestimmt auf die Musik, dass es oft scheint, als würden sie aus der Musik herauswachsen. Da wird tanzend eine Geschichte so erzählt, dass sie jeder versteht.
Der Vorhang war noch nicht ganz gefallen, als bereits tosender Applaus einsetzte. Begeisterung pur, fürs Ensemble, für die Solisten, für Dirigent und Orchester aber vor allem auch für die noch anwesende Choreografin Yabin Wang.
Aber; der langen Worte kurzer Sinn: Gehen Sie hin und geniessen Sie diesen einzigartigen Schwanensee ohne Schwan!
Giulia Tonelli, Esteban Berlanga und Wei Chen Foto Gregory Batardon
Inszenierung und Besetzung Szenarium von Cathy Marston und Edward Kemp Musik von Philip Feeney nach Edward Elgar, Ludwig van Beethoven, Gabriel Fauré, Felix Mendelssohn Bartholdy, Alfredo Piatti, Sergej Rachmaninow und Franz Schubert Choreografie Cathy Marston Musikalische Leitung Paul Connelly Bühnenbild Hildegard Bechtler Kostüme Bregje van Balen Lichtgestaltung Jon Clark Dramaturgie Edward Kemp, Michael Küster
‚The Cellist‘ ist ein Ballett von Cathy Marston, die früher Associate Artist am Royal Opera House, im 1994 Tänzerin im Opernnhaus Zürich und von 2007 bis 2013 Direktorin des ‘Bern Ballett’ war. Die international bekannte Choreographin wird nächsten Herbst als Nachfolgerin von Christian Spuck die Leitung des ‘Ballett Zürich’ übernehmen.
Die tragische Geschichte einer Cellistin
Die Jahrhundertkünstlerin Jacqueline Du Pré mit Ihrem Cello
Die sehr involvierende Choreographie, die 2020 für das Londoner Royal Ballet kreiert wurde, setzt die tragische Geschichte der Cellistin Jacqueline Du Pré im Mittelpunkt, und insbesondere deren tiefe Verbindung zu ihrem Instrument. Marstons Ballett konfrontiert uns mit einem höchstbegabten Mädchens, das schon als vierjährige vom Klang eines Cellos so fasziniert ist, dass ihre Mutter entscheidet, ihr sofort den ersten Unterricht zu erteilen. Verschiedene Lehrer werden folgen, bis die junge Du Pré in den 60er Jahren den auch noch jungen Dirigenten Daniel Barenboim kennenlernt und heiratet. Die Zeit des perfekten privaten und beruflichen Glücks beginnt, und die Cellistin wird überall in der Welt ein gefeierter Star. Aber, so wie es im Leben oft geht, das Glück dauert nicht ewig. Für die britische Künstlerin besonders, der plötzlich Multiple Sklerose diagnostiziert wird. Dies zwingt sie, nach einem vergeblichen Kampf, ihre Karriere zu beenden. Viel zu früh; viel zu tragisch. Alles zerbricht, auch die Ehe mit Barenboim; die schreckliche Krankheit gibt keine Ruhe, sie schreitet weiter fort; bis dass der Tod die Künstlerin erlöst.
Eine Schweizerische Erstaufführung, die dem Publikum das Herz stiehlt
Giulia Tonelli und Wei Chen Foto Gregory Batardon
Das Schicksal der Jahrhundertkünstlerin wird von Cathy Marston mit poetischen, melancholischen aber sehr packenden choreographischen Bildern erzählt. Zuerst mit grosser Behutsamkeit, dann mit expressiven, kraftvollen Bildern. Alles wird mit einer sehr menschlichen Sprache choreographisch nachgezeichnet: die ersten Jahre des ‘enfant prodige’, die stürmische Energie der erfolgreichen Jahren, die unerklärliche Müdigkeit, die zerstörten Nerven und Muskeln, den harten Weg in die Katastrophe bis zum tragischen Ende, das heisst bis 1987, als Jacqueline Du Pré in London im Alter von 42 Jahren stirbt. Marstons Ballett hinreisst, geht unter die Haut, bricht das Herz.
Die grosse Leistung der Solotänzer
Giulia Tonelli, die Erste Solistin des Balletts Zürich
Einfach grossartig die Leistung von Giulia Tonelli in der Titelrolle, von Wei Chen als das Instrument (ja, das Cello wird auch von einem Tänzer perfekt und plausibel verkörpert) und von Esteban Berlanga als der Dirigent: mit ihnen wird die Musik Tanz und umgekehrt wird der Tanz Musik. Mit einer Körpersprache, die nicht nur narrativ, sondern Ausdruck jeder Emotion, Spiegel der Seele ist; Jacqueline Du Pré perfekte, totale Musikalität und ihre Menschlichkeit werden auch choreographisch verewigt.
Die Musik
Giulia Tonelli, Esteban Berlanga und Wei Chen Foto Gregory Batardon
Einige der schönsten Werke für Cello von Elgar, Beethoven, Fauré, Mendelssohn, Piatti, Rachmaninoff und Schubert – insbesondere jene aus dem Repertoire der Cellistin – wurden vom britischen Komponisten Philip Feeney in eine hervorragende Partitur integriert, die von Solocellist Lev Sivkov, von Kateryna Tereschenko am Klavier und von der Philarmonia Zürich unter der brillianten Leitung von Paul Connelly meisterhaft ausgeführt wurden.
Bedeutende Biographien bewegen immer
Giulia Tonelli Foto Gregory B atardon
Die sehr eloquente Choreographie erklärt auch vollkommen, wieso Cathy Marston vom Leben der legendären Cellistin so bewegt wurde: abgesehen davon, dass Biographische Ballette sehr abendfüllend sind, tragische Schicksale oder ausserordentliche Lebensgeschichten haben Künstler im Grunde immer inspiriert. Biographische Werke haben eine lange Tradition und werden auch heute vom Publikum besonders geschätzt, mehr, man merkt ein starkes Bedürfnis nach grossartigen biographischen Beispielen, auch wenn diese aus einer anderen Perspektive erzählt werden.
‘The Cellist’, das noch bis 22.Juni und im Opernhaus Zürich aufgeführt wird, überzeugte total, und das Premièrenpublikum spendete einen lautstarken Beifall.