25 Jahre im Dienste der Kindergesundheit
Die Stiftung Kindergesundheit setzt sich mit wissenschaftlich evaluierten
Programmen für die Prävention im Kindes- und Jugendalter ein. Warum das
Thema mentale Gesundheit aktuell besonders im Fokus steht und welche
Entwicklungen hier Anlass zur Sorge geben, erklären Expert:innen der
Stiftung.
Fast alle Coronamaßnahmen sind aufgehoben, das Leben scheint für die
meisten Familien wieder in geordneten Bahnen zu verlaufen. Und doch wirft
die Pandemie noch immer einen Schatten auf Kinder und Eltern. Die
seelische Belastung für Heranwachsende ist zwar etwas zurückgegangen, wie
die Hamburger COPSY-Studie jüngst gezeigt hat, sie hat sich aber auf einem
hohen Niveau stabilisiert. Depressive und psychosomatische Symptome,
Ängste und auch Essstörungen kommen weiterhin häufiger vor als vor Corona.
Auch die Eltern sind noch immer erschöpft. Ihnen steckt die Belastung von
zwei Jahren Ausnahmezustand in den Knochen.
„Umso wichtiger ist es, die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen und
ihren Familien zu erkennen und zu verstehen und niemanden mit dem Gefühl
der Überforderung allein zu lassen“, sagt die ärztliche Direktorin des
Heckscher Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie Priv.-Doz. Dr.
Katharina Bühren. Sie ist jüngst dem Vorstand der Stiftung
Kindergesundheit beigetreten. Die in München beheimatete Stiftung feiert
2022 ihr 25-jähriges Jubiläum und hat sich vorgenommen, sich dem Thema
Psyche in diesem Jahr mit besonderer Aufmerksamkeit zu widmen.
Frau Dr. Bühren, jüngsten Meldungen der DAK-Gesundheit zufolge wurden in
den Krankenhäusern 60 Prozent mehr Mädchen und Jungen aufgrund einer
Adipositas behandelt als im Vorjahr. Auch bei starkem Untergewicht sowie
Magersucht und Bulimie sollen die Zahlen zugenommen haben.
Können Sie diese Entwicklung aus Ihrer Berufspraxis bestätigen? Wie können
Sie sich diesen Anstieg erklären?
Ja, das deckt sich definitiv mit unserem Eindruck. Die Zahl der
Neudiagnosen bei den Kindern und Jugendlichen ist deutlich angestiegen –
ca. 40 Prozent. Ich denke, es gibt mehrere Gründe für dieses Phänomen. Zum
einen bedeutete die Pandemie für viele Heranwachsende Stress, Angst und
ein Gefühl des Kontrollverlusts. Für manche von ihnen wurde dann die
Regulierung des Essverhaltens zu einem Weg die Kontrolle zurückzuerlangen,
zu einer Art Stressbewältigungsstrategie. Die Kontrolle über Essen und
Gewicht in Zeiten der Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen haben
einigen Kindern und Jugendlichen eine Tagesstruktur und auch Halt gegeben.
Kinder und Jugendliche, die vorher schon Schwierigkeiten hatten, sind
während der Corona-Pandemie vermehrt unter Druck gekommen. Auch die
intensivere Beschäftigung mit sozialen Medien während des Lockdowns kann
dazu beigetragen haben. Junge Menschen haben sich noch exzessiver mit dem
eigenen Körper beschäftigt und waren dem Eindruck von falschen
Körperbildern auf Instagram, Tiktok und Co. noch intensiver ausgesetzt.
Hinzu kommt, dass der Zugang zu diesen Medien immer früher erfolgt.
Wo finden betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien Hilfe?
Eltern, die sich um ihr Kind Sorgen machen, sollten unbedingt das Gespräch
mit ihm suchen und dranbleiben, auch wenn erst einmal alles geleugnet
wird. Parallel sollten sie sich an Menschen wenden, die professionell zu
dem Thema beraten können. Erste Ansprechpartner:innen können
Beratungsstellen, Hausärzt:innen oder Kinderärzt:innen sein.
Gibt es etwas, das man aktiv als Eltern tun kann um Essstörungen
vorzubeugen?
Da gibt es leider kein Patentrezept. Bei Essstörungen gibt es häufig keine
klare Ursache, sondern lediglich begünstigende Faktoren. Einzeln
betrachtet sind sie nicht für eine Essstörung verantwortlich, aber wenn
mehrere von ihnen zusammenkommen, kann das Risiko erhöht sein. Generell
können Eltern Kinder dabei unterstützen, ein gesundes Selbstbewusstsein
und Körpergefühl zu entwickeln. Eine ausgewogene Ernährung mit gemeinsamen
Mahlzeiten sind hier förderlich. Über falsche Schönheitsideale in sozialen
Medien sollten Eltern frühzeitig das Gespräch suchen. Vor ihren Kindern
sollten sie niemals abwertend über ihren eigenen Körper sprechen.
Anna Philippi ist Politikwissenschaftlerin und verfügt über langjährige
Erfahrung im Bereich der Gesundheitspolitik und politischen Kommunikation.
Im Februar hat sie die Leitung Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation
der Stiftung Kindergesundheit übernommen.
Frau Philippi, welche Rolle spielt die Kommunikationsarbeit im
Zusammenhang mit diesen Themen?
Ich denke, Aufklärung ist hier essentiell. Kinder müssen wissen, dass man
sich Hilfe holen kann, wenn es einem nicht gut geht. Eltern sollten für
die Alarmsignale sensibilisiert sein, die auf eine Störung der psychischen
Gesundheit ihres Kindes hindeuten. Zielgruppe der Kommunikation unserer
Stiftung sind aber auch Pädagog:innen, Medien und nicht zuletzt die
Politik. Um Prävention in den Bereichen psychische Gesundheit und
Ernährung zu stärken, braucht es strukturelle Veränderungen, für die viele
kleine Schritte auf vielen Ebenen nötig sind. Wir müssen Erkenntnisse aus
der Wissenschaft so kommunizieren, dass politische Entscheider:innen einen
Handlungsbedarf erkennen und an den großen Stellschrauben drehen.
Wie kann man dem Thema mehr Aufmerksamkeit verleihen um Prävention zu
fördern?
Leider zeigt sich immer wieder, dass Kinder eine sehr schwache Lobby
haben. Um Gehör zu finden, ist es hilfreich, wenn sich verschiedene Player
zusammentun. Deswegen haben wir beispielsweise zusammen mit anderen
Organisationen, die sich dem Wohlergehen von Kindern widmen, eine
Kindergesundheitsagenda ins Leben gerufen. Im Herbst wollen wir erstmalig
einen eigenen Kindergesundheitsbericht veröffentlichen und an die Politik
geben. Zum Thema psychische Gesundheit oder sozioökonomische Disparität
werden hier aktuelle Daten aus verschiedenen Forschungseinrichtungen
einfließen.
Wir wissen, dass gerade die psychotherapeutische und psychiatrische
Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vor massiven
Problemen steht.
Welchen Herausforderungen muss die Politik hier am dringendsten begegnen?
Es gibt eine sehr große Nachfrage nach Therapieplätzen, die Wartelisten
sind lang. Manchmal müssen Kinder etliche Monate warten, ehe sie mit der
Behandlung beginnen können. Hier müssen schnell pragmatische Lösungen her.
Privatpraxen oder in Kliniken tätige Kinder- und
Jugendpsychotherapeut:innen und -psychiater:innen könnten kurzfristig mit
ins Boot geholt werden. Langfristig braucht es aber sowohl mehr
Zulassungen als auch Präventionsmaßnahmen. Dazu gehören auch staatliche
Investitionen in Schulpsycholog:innen und Sozialarbeiter:innen.
Die Stiftung Kindergesundheit befasst sich mit den Auswirkungen der
Pandemie auf das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und
startete unlängst eine eigene Umfrage zum Thema Kindergesundheit in Zeiten
von Corona mit 1000 Kindern im Alter bis 14 Jahren.
Prof. Dr. Berthold Koletzko, Kinder und Jugendarzt am Dr. von Haunerschen
Kinderspital der Universität München, Gründer und Vorstand der Stiftung
Kindergesundheit, erklärt, was die Studie gezeigt hat.
Welche Ergebnisse konnte die Umfrage generieren?
Auf der einen Seite haben wir gesehen, dass zu Zeiten von Homeoffice und
Homeschooling zu Hause mehr gekocht und deshalb häufiger Gemüse, Obst und
gesunde Lebensmittel gegessen wurden, zumindest in Familien mit höherem
Sozialstatus. Auf der anderen Seite haben sich die Kinder und Jugendlichen
deutlich weniger bewegt. Viele haben an Gewicht zugenommen.
Besorgniserregend ist die Tatsache, dass in dieser Zeit die
sozioökonomische Disparität massiv zugenommen hat. Weniger privilegierte
Kinder hatten ein 2,5-faches Risiko für eine Gewichtszunahme als solche
aus gut situierten Familien.
Wie kann man das Thema gesunde Ernährung im Alltag zu Hause trotz der
Mehrfachbelastung, unter der Eltern noch immer leiden, umsetzen?
Wenn es irgendwie geht, sollte man selbst kochen. Das können ganz
einfache, günstige Gerichte sein, wie Pellkartoffeln mit Quark und
Rohkost. Fertigprodukte sollte man vermeiden, von sogenannten
„Kinderlebensmitteln“ und süßen Getränken die Finger lassen. Beim Kauf von
abgepackten Produkten sollte man bevorzugt solche auswählen, die eine
grüne NutriScore-Auszeichnung tragen (NutriScore A oder B). Damit ist
schon viel getan. Man kann versuchen, die Kinder in das Kochen mit
einzubeziehen. Aber natürlich liegt hier ein strukturelles Problem vor,
wenn Eltern so überlastet sind. Die Verantwortung kann nicht allein bei
den Familien liegen. Die Politik ist hier gefragt. Zum Beispiel sollte sie
für eine qualitativ hochwertige Ernährung in der Schule und im
Kindergarten sorgen. Es ist mitunter erschreckend, was in einem reichen
Land wie Deutschland unseren Kindern zum Mittagessen vorgesetzt wird.
Welche Programme hat die Stiftung zur Prävention im Bereich der Ernährung
entwickelt?
Unser Präventionsprogramm „DIE RAKUNS – Das gesunde Klassenzimmer“ fördert
die Gesundheit von Grundschulkindern auf vielen Ebenen und verbessert ihr
Gesundheitsverhalten. Das Programm ist wissenschaftlich evaluiert und
läuft mittlerweile bundesweit in über 4100 Schulen sehr erfolgreich. Unser
Programm „Tigerkids“ fördert Bewegung und gesunde Ernährung in
Kindertageseinrichtungen, um Übergewicht vorzubeugen. Es ist ebenfalls
wissenschaftlich fundiert und wird mittlerweile von 2500 Kindergärten und
Kitas genutzt. Das Programm zielt sowohl auf das Verhalten des einzelnen
Kindes als auch auf gesundheitsfördernde Bedingungen im Kindergarten ab.
Außerdem entwickeln wir ein neues Programm, das die Wechselwirkung
zwischen Kindergesundheit und planetarer Gesundheit in den Fokus nimmt.
Ziel ist, dass Kinder einen gesundheitsförderlichen und gleichzeitig
umweltbewussten Lebensstil entwickeln. Und dann legen wir „Powerkids“ neu
auf, ein Schulungsprogramm für übergewichtige Kinder und Jugendliche, das
nun digitalisiert wird.
Wie kann man das Bewusstsein der Kinder für ein gesundes Essverhalten
schärfen?
Essen muss Spaß machen. Nahrungsmittel zuzubereiten ist eine sinnliche
Erfahrung. Das müssen Kinder erleben dürfen. Dazu braucht es Vorbilder -
und Zeit. Wenn Eltern dies beides nicht leisten können, muss zumindest in
der Kita und Schule gegengesteuert werden.
Die Stiftung Kindergesundheit wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen,
die Gesundheit von Kindern durch Präventionsarbeit zu stärken - ob im
Settingbereich von Schulen und Kindergärten, in Informationsmaßnahmen für
die breite Öffentlichkeit oder im wissenschaftlich-politischen Umfeld im
Rahmen des Kindergesundheitsberichts. Ihr Ziel ist es, Erkenntnisse aus
der Wissenschaft für die Praxis nutzbar zu machen – durch evidenzbasierte
Programme und Maßnahmen. In ihrem Jubiläumsjahr hat sich die Stiftung
einiges vorgenommen. „25 Aktionen für 25 Jahre Stiftungstätigkeit“ – so
lautet das Motto. Mit einem Kunstprojekt für Kinder und Jugendliche zum
Thema gesunde Ernährung wird die Stiftung zum Beispiel am JuKi Festival in
München vertreten sein. Aber auch die Themen Gesundheit & Klimaschutz,
Bewegung und mentale Gesundheit werden weiter vorangebracht.
Unter dem Motto „25 EURO für 25 Jahre“ hat jeder die Möglichkeit die
Arbeit der Stiftung Kindergesundheit zu unterstützen. Mehr dazu unter
www.kindergsundheit.de.
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