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Lucerne Festival, Sinfoniekonzert 15 Orchester der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY | Matthias Pintscher | Solisten, 1. September 2018, besucht von Léonard Wüst

Orchester der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY
Orchester der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY

Besetzung und Programm:

György Kurtág (*1926)
Stele für grosses Orchester
Peter Eötvös (*1944)
Reading Malevich für Orchester
Uraufführung | Auftragswerk «Roche Commissions»
Máté Bella (*1985)
Lethe für Streichorchester
Bernd Alois Zimmermann (1918–1970)
Dialoge. Konzert für zwei Klaviere und Orchester

 

Rezension:

Ein Konzertabend mit, die Ausnahme, das Konzert für zwei Klaviere und Orchester des Kölners Bernd Alois Zimmermann, bestätigt die Regel, ausschliesslich Werken ungarischer Komponisten. Würde der magyarische auch ein magischer Abend? Der Dirigent des Abends, der 47jährige Matthias Pintscher, war u. a Schüler des ungarischen Komponisten István Nagy und von Manfred Trojahn an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf. Ebenso studierte er bei Giselher Klebe in Detmold und war ein späterer Zögling von Pierre Boulez. Er ist in Luzern, vor allem auch seit seiner Zeit im Jahre 2006  als „Composer in Residence“ am Lucerne Festival, bestens bekannt und vernetzt. Seit 2013 leitet er das Ensemble intercontemporain in Paris und seit dem Sommer 2016 leitet er als Principal Conductor das Orchester der Lucerne Festival Academy an der Seite von Wolfgang Rihm.

Zum Konzert

Nachdem sich ein Teil des Orchesters, die Streicher, auf der Bühne eingerichtet hatte betrat Festivalintendant Michael Häfliger dieselbe, was normalerweise die Ankündigung einer Besetzungsänderung bedeutet. In diesem Fall verkündete er aber bloss eine Programmumstellung, d.h. der vorgesehene zweite  Konzertteil würde zuerst gespielt, folglich der angedacht erste Teil nach der Pause und dies in umgekehrter Werksabfolge. Also war dann der Konzertablauf so, wie im Internet gelistet, nicht aber im gedruckten Abendprogramm.

Ein fernöstlich angehauchter Ungare

Matthias Pintscher  Dirigent Foto Felix Broede
Matthias Pintscher Dirigent Foto Felix Broede

Dann eröffnete Dirigent Matthias Pintscher den Konzertabend mit Lethe für“ Streichorchester von Máté Bella, ein Werk nur für Streicher, aber trotzdem nie langweilig. Bella versteht es ausgezeichnet Spannungsbögen zu entwerfen, indem er mal den hochtönigen Violinen den Raum gibt, was dann ein Sirren erzeugt, wie bei einem aufgescheuchten Hornissenschwarm, mal lässt er die Celli und Bässe grollend brummen, führt dann alle wieder zusammen zum Ganzen. Mit Glissando-Strukturen und asiatisch anmutenden Spieltechniken entwirft er  ein exotisches Fernost-Kolorit in diesem Kompositionsauftrag der musica viva des Bayerischen Rundfunks
in Zusammenarbeit mit der Peter Eötvös Contemporary Music Foundation, von  Pintscher mit sehr viel Körpersprache und sichtlicher Freude dirigiert, unterstützt von seinen vollmotivierten Mitmusikern. Auch das zahlreiche Publikum hatte seine helle Freude und spendete dementsprechenden Beifall.

Solistin Tamara Stefanovich

Tamara Stefanovich, geboren 1973 in Belgrad, trat bereits als Siebenjährige öffentlich auf und war mit 13 Jahren die jüngste Studentin an der Universität Belgrad. Nach dem Diplom setzte sie ihre Ausbildung bei Claude Frank am Curtis Institute of Music in Philadelphia sowie bei Pierre-Laurent Aimard an der Kölner Musikhochschule fort und gastiert heute in den grössten Häusern weltweit.

Solist Pierre-Laurent Aimard

Pierre-Laurent Aimard, der 1957 in Lyon geboren wurde, studierte am Pariser Conservatoire bei Yvonne Loriod und bei Maria Curcio in London. Ausserdem nahm er an den Analyseseminaren von Pierre Boulez am Pariser IRCAM teil und besuchte Kurse von György Kurtág in Budapest. 1973 gewann er den Messiaen-Preis in Royan und gilt seither als berufener Interpret der Werke dieses Komponisten. Als Boulez 1976 das Ensemble intercontemporain gründete, ernannte er Aimard zum Solopianisten. Der Pianist war 2007 „Artist étoile“ am Lucerne Festival.

Zimmermanns futuristische Dialoge. Konzert für zwei Klaviere und Orchester

Pierre-Laurent Aimard  und  Tamara Stefanovich, Foto Neda Navaee
Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich, Foto Neda Navaee

Nun platzierten sich auch noch die restlichen Musiker zu den Streichern und die beiden Konzertflügel wurden in die Mitte gerollt. Für seine pluralistische Kompositionstechnik, am 5. Dezember 1960 in Köln uraufgeführt, schrieb der Komponist einzelne Partituren für über 100 Instrumente, ein enormer Aufwand, den das Resultat rechtfertigt. Nach einem Fagott lastigen Beginn, garniert mit Xylophon Passagen, setzen schon bald beide Klaviere ein, die während des Werks mal einzeln, mal zusammen, öfters mit der gleichen, dann wieder mit unterschiedlicher Melodik ins „Geschehen“ eingreifen, sich aber dem Orchester nie überordnen, ganz dem Gesamten dienend. In die ausgedehnte Kadenz am Ende des Werks hat Zimmermann mehrere Teile aus Mozarts Klavierkonzert in C-Dur KV 467, aber auch musikalische Gestalten aus Debussys Jeux und Jazzelemente integriert. Die beiden Solisten wurden mit ihrer präzisen Bravour  dem widerstreitenden Charakter des Werkes jederzeit auf höchstem Niveau gerecht. Dieses orgiastische Wetterleuchten mit  schrillen Alltagsgeräuschen in mehrdeutigen Klangbildern ist eine aussergewöhnliche Collage. Und diese „Dialoge“ mit dem infernalischen und auch geheimnisvoll stillen Ausdrucksspektrum brachte Matthias Pintscher  mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra zu einer Aufführung von ebenso großer Transparenz wie Ausdrucksdichte. So entstehen „Dialoge über die Zeiten hinweg von Träumenden, Liebenden, Leidenden und Betenden“ (Zitat Zimmermann). Die Interpretation belohnte das Auditorium mit langanhaltendem enthusiastischem Applaus.

Uraufführung eines Auftragswerks der  «Roche Commissions»

Suprematismus (Supremus Nr. 56)
Suprematismus (Supremus Nr. 56)

In Anwesenheit des Komponisten Peter Eötvös und des Verwaltungsratspräsidenten von „Roche“, Christoph Franz erklang dann  das  Auftragswerk «Reading Male­vich», worin der Komponist die Motive des Bildes «Supremus Nr. 56» des russischen Malers Kasimir Malewitsch in Klangbilder verwandelt. Auch Eötvös instrumentiert ungewöhnlich und modern, wie sein Landsmann Kurtag, so waren u.a., nebst der „Normalinstrumentierung“, noch diese Instrumente vertreten: E Bass, E Gitarre, Akkordeon und Hackbrett. Dies ermöglicht ganz neue Klanggebilde, die in Komplexität, die Dichte des Konstrukts ebenso abstrakt und progressiv herüberkommen wie das Gemälde. Trotz dem eher kühl distanzierten Tongedicht, konnte sich das Auditorium für das Werk erwärmen und bezeugte die mit starkem Applaus und steigerte diesen noch, als sich Komponist Eötvös zu den Musikern auf die Bühne gesellte.

Konzertabschluss mit Kurtags „Stele“ für grosses Orchester

Komponist Peter Eötvös und Dirigent Matthias Pintscher
Komponist Peter Eötvös und Dirigent Matthias Pintscher, Foto Priska Ketterer

Kurtag ist der wohl meistaufgeführte Komponist der neueren ungarischen Komponistengilde, daher sind seine schrägen Töne den meisten Konzertbesuchern auch schon etwas vertrauter. Dennoch erstaunt es immer wieder, wie sich durch die ungewohnte Orchestrierung völlig ungewohnte Klangbilder formen. Feinsinnige Strukturen werden abgelöst von impulsiven Eruptionen, wo die impulsiven Streicher aufbegehren, beruhigt die Querflöte, die dann vom Horn überflügelt wird, bevor Kurtag alles wieder in das Flussbett zurückführt. All diese Gegensätze und Ungereimtheiten setzt der engagierte Pintscher am Pult präzis und emotional um, unterstützt von seinen kongenialen Mitmusikern. Die offensichtliche Spielfreude der Protagonisten überträgt sich auch auf das begeisterte Publikum, das dann auch einen langanhaltenden stürmischen Schlussapplaus spendete. Zeitgenössische Werke sind irgendwie immer ein geordnetes Chaos oder eine chaotische Ordnung der Töne.

Kleine Fotodiashow des Konzertes von Priska Ketterer, Lucerne Festival:

fotogalerien.wordpress.com/2018/09/04/sinfoniekonzert-15-orchester-der-lucerne-festival-academy-matthias-pintscher-solisten/

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch

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Lucerne Festival, Rebecca Saunders erhält den zehnten Kompositionsauftrag der «Roche Commissions»

Lucerne-Festival-im-Sommer-2018-Thema-Kindheit
Lucerne-Festival-im-Sommer-2018-Thema-Kindheit

Das neunte Auftragswerk Reading Malevich von Peter Eötvös wird am 1. September vom Orchester der Lucerne Festival Academy unter Matthias Pintscher uraufgeführt. Das aktuelle Auftragswerk der «Roche Commissions» kommt am 1. Sep­tember im Rahmen von Lucerne Festival im Sommer zur Uraufführung. Matthias Pintscher dirigiert Reading Malevich von Peter Eötvös, er hat das Werk in den Wochen zuvor mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy im Rahmen des Sommer-Festivals erarbeitet. Seit 2003 wird im Rahmen der «Roche Commissions» alle zwei Jahre ein Werk an einen weltweit renommierten Komponisten in Auftrag gegeben. Den Folgeauftrag für 2020 erhält die britische Komponistin Rebecca Saunders. Sie zählt zu den renommiertesten VertreterInnen ihrer Generation. Die Wahl erfolgte durch Roche auf Vorschlag der künstlerischen Leitung von Lucerne Festival. Die Uraufführung Ihres Werks wird im Rahmen des Sommer-Festivals 2020 stattfinden.

«Peter Eötvös ‘übersetzt’ mit Reading Malevich das Gemälde Suprematismus des russischen Malers Kasimir Malewitsch in Musik, das wird ein Highlight des Sommer-Festivals», kommentiert Michael Haefliger, Intendant von Lucerne Festival. «Eine hervorragende Wahl für das kommende Auftrags­werk ist Rebecca Saunders, sie setzt als eine der bedeutendsten KomponistInnen der Branche die klangvolle Reihe an Namen fort, die bereits für die ‹Roche Commissions› komponiert haben». Seit 2003 entstanden Werke von Sir Harrison Birtwistle, Chen Yi, Hanspeter Kyburz, George Benjamin, Toshio Hosokawa, Matthias Pintscher, Unsuk Chin und Olga Neuwirth.

Über Rebecca Saunders
Die 1967 in London geborene Rebecca Saunders ist eine der international führenden Komponistin­nen ihrer Generation. Sie studierte bei Nigel Osborne in Edinburgh sowie bei Wolfgang Rihm in Karls­ruhe. Ihre Musik steht für feinste musikalische Gesten und Klänge, das Ausloten nie gehörter Klang­farben und die Verräumlichung musikalischer Verläufe. Die in Berlin lebende Künstlerin lässt sich von Autoren wie Samuel Beckett, James Joyce, Italo Calvino oder David Foster Wallace anregen. Sie ar­beitete mit den renommiertesten Künstlern und Ensembles im Bereich Neue Musik wie dem Ensem­ble Modern, dem Arditti Quartett, dem Ensemble Resonanz, den Sinfonieorchestern des WDR, SWR und der BBC zusammen. Saunders wurde bereits mit zahlreichen internationalen Preisen ausge­zeichnet wie dem Mauricio Kagel Musikpreis oder dem Ernst von Siemens Musikpreis. Sie unterrich­tet an der Hochschule in Hannover und ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste sowie der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden.

Über Peter Eötvös
Der Ungar Peter Eötvös ist seit vielen Jahren als Komponist, Dirigent und Lehrer erfolgreich. Er wur­de 1944 in Transsilvanien geboren und gilt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der zeitge­nössischen Musik. Bekannt ist er sowohl als international erfolgreicher Dirigent als auch als Kompo­nist beliebter Opern, Orchesterwerken und Konzerten, die er weltweit führenden Künstlern widmete. Bereits 2007 präsentierte er seine Werke bei Lucerne Festival als «composer-in-residence». Dem Unterrichten räumt Peter Eötvös viel Zeit ein, er lehrte in Köln und Karlsruhe und gibt internationale Meisterkurse. In Luzern arbeitete er im Sommer 2011 als Dirigent und Komponist mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy. 1991 gründete er in Budapest das «International Eötvös Institute» und 2004 die «Eötvös Contemporary Music Foundation» für junge Komponisten und Dirigenten. www.lucernefestival.ch

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Lucerne Festival, Sinfoniekonzert 8 LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA | Riccardo Chailly, 24. August 2018 besucht von Léonard Wüst

Riccardo Chailly Dirigent
Riccardo Chailly Dirigent

Besetzung und Programm:

30. Luzerner Bühnenjubiläum von Riccardo Chailly

Maurice Ravel (1875–1937)
Valses nobles et sentimentales
 
La Valse
 
Suiten Nr. 1 und 2 aus Daphnis et Chloé
 
Boléro

 

Rezension:

Es war das Konzert zum 30. Luzerner Bühnenjubiläum von Riccardo Chailly, so lange tritt er schon in Luzern auf, früher als Gastdirigent mit diversen Orchestern, seit 2016 als Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, dies in Nachfolge seines im Januar 2014 verstorbenen Landsmannes und Förderers Claudio Abbado. Dieser hatte, zusammen mit Festivalintendant Michael Häfliger, das Orchester ins Leben gerufen, dies basierend auf eine Idee und Initiative von Arturo Toscanini, der im Jahr 1938 mit dem legendären «Concert de Gala» gefeierte Virtuosen ihrer Zeit zu einem Eliteklangkörper vereinte.

Valses nobles et sentimentales

LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA
LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA

Die Suite, bestehend aus sieben eigenständigen Walzern mit fliessenden Übergängen, daher kaum einzeln aufführbar und einem Epilog, wurde 1911 für Klavier veröffentlicht, eine Version für Orchester folgte 1912. Die Uraufführung 1911 durch Louis Aubert im Salle Gaveau erfolgte im Rahmen einer Veranstaltung der Société musicale indépendante, bei der verschiedene Werke vorgestellt wurden, dessen Komponisten dem Publikum zunächst nicht bekannt waren. Dadurch sollte jedem Künstler eine unbefangene Beurteilung ermöglicht werden. Aufgrund ihrer Dissonanzen und gewagten Harmonik sorgten die Valses nobles et sentimentales allerdings für wenig Begeisterung beim Publikum. Es kam zu einigen Zwischenrufen, teilweise wurde das Werk sogar für eine Parodie gehalten.

Wiener Lebensfreude begeistert im Luzerner Konzertsaal

Hier adaptiert Ravel die Wiener Lebensfreude und diese scheint eindeutig auch dem Lombarden Riccardo Chailly inne zu wohnen. Das Orchester, spielfreudig wie immer, braust förmlich durch die verschiedenen Walzer, die Ravel mal stürmisch, mal ausladend majestätisch geschrieben hat. Der Epilog präsentiert gleich zu Beginn ein dunkles, schlichtes Hauptthema, das durchgängig in verschiedenen Tonarten wiederkehrt. Darauf werden ständig Motive der vorherigen Walzer aufgegriffen, die schließlich wieder im melancholischen Thema des Epilogs münden. Die Schwierigkeit des Epilogs liegt besonders darin, die abwechslungsreichen Themen der vorherigen Walzer im schwermütigen Hauptthema elegant einzuhüllen. Teilweise ist es nur mit dem Sostenuto-Pedal möglich, den Anweisungen Ravels völlig gerecht zu werden. Riccardo Chailly, manchmal gar leicht tänzelnd auf seinem Podium, war die gute Laune in jedem Augenblick anzusehen, seine Begeisterung und Freude, die sich auch auf seine Mitmusiker und das Publikum übertrug, förmlich greif- und spürbar. Dieses bedankte sich denn auch für das Gebotene mit reichlich Applaus.

La Valse

Sinfoniekonzert 8, Szenenfoto von Priska Ketterer
Sinfoniekonzert 8, Szenenfoto von Priska Ketterer

Ohne gross erkennbaren Unterbruch führte der Dirigent dann seine Mitmusiker dann in die sprühende, lebensfrohe Reminiszenz an den Wiener Walzerkönig Johann Strauss. In La Valse werden Elemente des Wiener Walzers aufgegriffen, die mit den Mitteln impressionistischer Harmonik und Rhythmik ausgeweitet werden. Dadurch sollte eine Art Apotheose des Wiener Walzers dargestellt werden, mit dem Ravel den „Eindruck einer fantastischen und tödlichen Art eines „Derwischtanzes“ verband. Die Intentionen des Komponisten wurden von den Protagonisten mit viel Spielfreude umgesetzt, was vom Auditorium mit dementsprechendem Applaus honoriert wurde, bevor man sich in die Pause begab.

2. Konzertteil Suiten Nr. 1 und 2 aus Daphnis et Chloé

Sinfoniekonzert 8, Szenenfoto von Priska Ketterer
Sinfoniekonzert 8, Szenenfoto von Priska Ketterer

Hier vertont Ravel, im Auftrag, für Sergei Diaghilevs „Ballets Russes“, einen spätantiken Liebesroman des griechischen Schriftstellers Longos, der die Geschichte der Findelkinder Daphnis und Chloe erzählt, die ihre Kindheit elternlos bei Hirten auf Lesbos erleben, voneinander getrennt werden, wieder zueinander finden, sich lieben und schließlich bei ihren Eltern glücklich leben. Das Lucerne Festival Orchestra unter Chailly präsentierte Ravels mit Abstand am größten instrumentierte Orchesterkomposition dezidiert als Schlüsselwerk der Moderne. Mit seinem sehr konsequenten und dynamischen Dirigat lässt der gebürtige Mailänder den lyrischen, melancholischen Momenten der Partitur durchaus ihren Raum, betont aber vor allem ihren experimentellen Klangcharakter, ihre Kleinteiligkeit, ihre vielen exotischen Farbsplitter, ihre fast überbordend dominant stampfenden Rhythmen.

Nicht nur für mich der absolute Höhepunkt des Konzertabends, obwohl ja dieser, vermeintlich, mit dem folgenden „Boléro“, noch bevorstand. Dies belegte der stürmische enthusiastische Applaus, garniert mit einzelnen Bravorufen.

Für den finalen „Boléro“ gibt’s eine glatte 10!!! 

Riccardo Cailly Foto Priska Ketterer
Riccardo Cailly Foto Priska Ketterer

Bo Derek hätte sicher auch ihre Freude daran gehabt. Zitat von Maurice Ravel: „Ich habe nur ein Meisterwerk geschaffen, den „Boléro“; nur schade, dass keine Musik drinnen ist“. Natürlich war es absehbar, dass das bekannteste Werk von Maurice Ravel, der „Boléro“ für das Orchester und seinen Dirigenten zum Schaulaufen bestens geeignet ist. Die Komposition, der Tänzerin Ida Rubinstein gewidmet, ist ein einsätziger Tanz, sehr langsam und ständig gleich bleibend, was die Melodie, die Harmonik und den ununterbrochen von einer Rührtrommel markierten Rhythmus betrifft. Das einzige Element der Abwechslung ist das Crescendo des Orchesters. In einem viertaktigen Vorspiel bildet dieser Grundrhythmus den fast schon meditativen Beginn des Boléro. Von der kleinen Trommel intoniert und kaum wahrnehmbar von Pizzicato-Akkorden der tiefen Streicher gestützt. Schon in diesem Anfang zeichnet sich eine der Grundideen des Werks ab: Wiederholung als die Sache selbst, um die es geht. Der Schlagwerker hat den Rhythmus von hier an bis zum Ende des Stücks, also gut fünfzehn Minuten lang, unverändert durchzuhalten, in über 160 Wiederholungen – in dieser Hinsicht stellt der Boléro eine einzigartige Herausforderung innerhalb des „klassischen“ Konzertrepertoires dar. Ebenso konstant wie der Grundrhythmus ist das harmonische Begleitschema des Boléro gehalten, das auf der einfachsten aller Akkordbeziehungen beruht: Das melodische Geschehen wird, mit Ausnahme einer kurzen Ausweichung nach E in der Coda – stets und ausschließlich durch Tonika und Dominante (c-g) gestützt.

Reaktionen auf den Boléro bei der Uraufführung

“Hilfe! Ein Verrückter!” soll eine Dame mittleren Alters ausgerufen haben, als sie aus der Uraufführung von Ravels “Boléro” rannte. Trockene Entgegnung des Komponisten: “Die hat mich verstanden.” Ob Anekdote, ob Legende, man kann es beiden nachfühlen, denn tatsächlich wagte Ravel sich weiter vor als je: Er schleust lediglich ein immer gleiches Ostinato im Boléro-Rhythmus mit sechzehn Takten Melodie durch alle möglichen (und manche nahe-unmöglichen) Orchester-Klangfarben, steigert dabei die Lautstärke, aber nicht das Tempo, und lässt das alles explosiv/eruptiv/orgiastisch (oder wie immer) enden – sonst könnte es wohl ewig so weitergehen. Cailly arbeitete die sich ablösenden Bläser schön heraus, hielt die Streicher bei ihren Pizzicato dezent im Hintergrund zum raffinierten Spannungsaufbau mit diesem Ostinato, das den Geniestreich von Ravel so einzigartig macht. Eine schon fast unerträgliche Gefühlsaufpeitschung, die schlussendlich mitten im Finale orgiastisch abbricht. Der nicht enden wollende Schlussapplaus kam denn auch prompt und endete in einer stehenden Ovation.

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch

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Lucerne Festival, Sinfoniekonzert 6 West-Eastern Divan Orchestra | Daniel Barenboim | Elsa Dreisig, 22. August 2018, besucht von Léonard Wüst

Das Sinfoniekonzert 6 mit Dirigent Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra. Foto Priska Ketterer
Das Sinfoniekonzert 6 mit Dirigent Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra. Foto Priska Ketterer

Besetzung und Programm:

David Robert Coleman (*1969)
Looking for Palestine für Sopran und Orchester
Schweizer Erstaufführung
Anton Bruckner (1824–1896)
Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

 

 

Rezension:

Ein regelmässiger Gast in Luzern ist Daniel Barenboim, der gleich über vier Staatsangehörigkeiten verfügt  Mit dem, von ihm im Jahre 1999 mitbegründeten West-Eastern Divan Orchestra, konzertierte er vor vollen Rängen. Dieses Orchester setzt sich zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern zusammen und soll ein Zeichen setzen für das durchaus mögliche friedliche Miteinander der verschiedenen Völker im nahen Osten.

David Robert ColemanLooking for Palestine“ für Sopran und Orchester
Schweizer Erstaufführung

Szenenfoto,Sinfoniekonzert 6,West-Eastern Divan Orchestra Sopranistin Elsa Dreisig
Szenenfoto,Sinfoniekonzert 6,West-Eastern Divan Orchestra Sopranistin Elsa Dreisig

Die Schweizer Erstaufführung war auch der zweite Auftritt der im Jahre 1991 geborenen, französisch-dänischen Sopranistin Elsa Dreisig nach ihrem letztjährigen Debut am Lucerne Festival. Sie wurde 2016 an Plácido Domingos Operalia Wettbewerb mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr war sie die „Gesangs-Entdeckung“ bei den Victoires de la musique classique und die Fachzeitschrift Opernwelt verlieh ihr die Auszeichnung als Nachwuchskünstlerin des Jahres. Schon 2015 hatte sie den 2. Preis beim Königin Sonja Wettbewerb in Oslo und den 1. Preis sowie den Publikumspreis beim Wettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh gewonnen.

Arabische Laute, die Oud
Arabische Laute, die Oud

Das Stück basiert auf einer Autobiographie von Najla Said, der Tochter von Mitbegründer Edward Said, die als Palästinenserin in New York in einem jüdischen Milieu aufwuchs.  “Das ist ein Thema, das für unser Orchester mit israelischen und arabischen Musikern ganz zentral ist: Wie gehen Menschen mit ihren Identitäten um? Und wie werden sie behandelt?”, so Barenboim in einem Interview mit dem österreichischen “Kurier”. Coleman vertont diese auf ungewöhnliche Weise, indem er der Oud, einer Kurzhalslaute aus dem Vorderen Orient in seiner Partitur viel Raum einräumte, was der Komposition einen orientalischen Touch verlieh. Über die Musik erhob sich dann der wehklagende Gesang der Sopranistin, abwechselnd mit Sprechgesang, Texte rezitierend.

Das Auditorium bedankte sich für dieses ungewöhnliche Konzerterlebnis mit langanhaltendem, kräftigen Applaus und begab sich dann in die Pause in die Foyers des KKL und vor allem, an diesem schönen Sommerabend, auf den Europaplatz vor dem KKL. Dort sichtete man dann auch einige Politprominenz, aktuelle und aus früheren Tagen. So unterhielten sich die Alt Bundesräte Pascal Couchepin und Kaspar Villiger angeregt mit dem Luzerner Stadtpräsidenten Beat Züsli. Auch Züslis Vorvorgänger im Amt, der Luzerner Altstapi Urs W. Studer schüttelte hier und dort Hände, begrüsste alte Bekannte mit ein paar Worten. Ebenfalls anwesend, nebst anderer Prominenz, auch die Altbundesrätinnen Elisabeth Kopp und Ruth Dreifuss. Gutgelaunt genoss man sein Cüpli, sein Glas Wein, den Orangensaft oder das Mineralwasser und dislozierte dann wieder in den angenehm kühlen Konzertsaal für den zweiten Konzertteil.

Anton Bruckner Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Grundsätzliches zu Bruckners Neunter (Quelle: srf)

Bruckner widmete seine siebte Sinfonie König Ludwig II. von Bayern, die Achte eignete er Kaiser Franz Joseph I. von Österreich zu, die Neunte aber Gott höchstpersönlich, denn allein ihm, dem Allmächtigen, habe er schliesslich seine künstlerischen Gaben zu verdanken. Mit ihren religiösen Anspielungen ist Bruckners Neunte denn auch ein tiefempfundenes Glaubenszeugnis des tiefreligiösen Komponisten, ein Gebet und Bekenntnis im Angesicht des Todes.

Ein Jahrhundert lang galt Bruckners Neunte Sinfonie als unvollendet. Der Komponist starb, bevor er den vierten Satz vollenden konnte – das war die weit verbreitete Meinung. In detektivischer Kleinarbeit wurde in den letzten Jahren der unvollständige vierte Satz zu grossen Teilen rekonstruiert.

Die Musik erlischt wie Bruckners Leben

Drei Sätze sind fertig; doch allmählich wird klar: Der geschwächte Komponist wird den vierten und letzten Satz nicht mehr beenden können. Bruckner selbst befürchtet das auch, und so verfügt er, dass anstelle des unvollendeten Finales sein Te Deum gespielt werde.

Der Dirigent der Uraufführung, Ferdinand Löwe, erfüllt den Wunsch des verstorbenen Komponisten. Doch gleichzeitig lässt er verlauten, dass das völlig unnötig sei; auch die ersten drei Sätze von rund einer Stunde Dauer stellten ein vollständiges Werk dar. Und so erklingt Bruckners Neunte Sinfonie bis heute als dreisätziges Werk, mit einem verdämmernden Schluss. Sehr passend, nicht? Die Musik erlischt so wie einst das Leben des Komponisten.

Verschwanden Blätter aus dem Arbeitszimmer?

Doch was genau geschah eigentlich damals bei all den Besuchen von Bruckners Freunden und Schülern am Sterbebett des Komponisten? Schaute der eine und andere vielleicht auch schnell noch ins Arbeitszimmer – und steckte dieses oder jenes Blatt ein? So wichtig konnte das alles ja nicht sein, das eine oder andere durfte man sicher behalten – als Andenken an den verehrten Meister natürlich.

Erwiesen ist jedenfalls, dass die Bruckner-Dirigenten Ferdinand Löwe und Franz Schalk einzelne Seiten aus dem Finale der Neunten verschenkten und verkauften. Und gleichzeitig verbreitete sich das Gerede von Bruckners «unvollendeter» Sinfonie so lange, bis es Tatsache schien.

«Suchen Sie auf dem Dachboden nach Material»

Fachleute sind da heute ganz anderer Ansicht. Bruckner komponierte das Gerüst des Satzes anscheinend lückenlos von Anfang bis Ende, nur die Instrumentierung konnte er nicht mehr vollständig ausarbeiten. Dennoch existierte die Sinfonie somit bei seinem Tod vollständig. Erst später machte fahrlässiges (wenn nicht sogar kriminelles) Verhalten den vierten Satz zum Fragment, mit einigen Lücken im Ablauf.

Doch muss es für immer so bleiben? Tatsächlich kam noch 2003 ein bis dahin unbekanntes Skizzenblatt in einem Nachlass ans Tageslicht… Und Dirigent Nikolaus Harnoncourt, der alle Bruckner-Sinfonien aufgenommen hat, hegt die Hoffnung, dass die eine oder andere Wiener Familie «zuhause auf dem Dachboden oder in alten Kommoden» durchaus noch Material zum Finale der Neunten finden könnte.

Skizzen ergänzt und Lücken nachkomponiert

Einige Musikdetektive gingen sogar noch weiter. Die vier Musikwissenschaftler bzw. Komponisten Nicola Samale, John A. Phillips, Benjamin Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca haben sich in jahrelanger detektivischer Arbeit mit der Sinfonie beschäftigt: mit Bruckners Arbeitsweise und Planung, mit Aufbau und Konzept des Finales, mit der Partitur und jedem einzelnen Skizzenblatt. So wurde es schliesslich möglich, die Skizzen zu ergänzen und die wenigen Lücken nach zu komponieren.

Der Fall ist zu 95 Prozent aufgeklärt

Alles nur Musikwissenschaft? – Durchaus nicht. Ob die Sinfonie einen Schlusssatz hat oder nicht, ändert alles. Der tiefgläubige Anton Bruckner hat das Werk «dem lieben Gott» gewidmet. Undenkbar für ihn, dass es mit dem verdämmernden Adagio, also sozusagen mit dem Tod, schliessen würde. Der eigentliche Schluss konnte für Bruckner nur die Auferstehung sein, und diese findet nun im Jubel des vollendeten Finales auch statt.

Mehr als 100 Jahre nach den vielleicht doch etwas kriminellen Begleitumständen ihrer Entstehung hören wir nun Bruckners Neunte erstmals im Original. Oder in etwa 95 Prozent davon. Und vielleicht kommen die restlichen 5 Prozent dereinst noch auf einem Dachboden ans Tageslicht. Zitatende.

Zur Interpretation der Sinfonie durch Barenboim und seinem Orchester

Dirigent Daniel Barenboim Foto Priska Ketterer, LUCERNE FESTIVAL
Dirigent Daniel Barenboim Foto Priska Ketterer, LUCERNE FESTIVAL

Monumental, wuchtig, gar etwas zornig, so reichte uns Barenboim seinen Bruckner dar und ging, vor allem im ersten und dritten Satz, in der Lautstärke einige male nahe an die Schmerzgrenze. Klar, einen Buckner kann man nicht „piano“ umsetzen, aber da wäre etwas mehr Zurückhaltung dem Werk dienlicher gewesen und den Intentionen, der Zerrissenheit  des damals todkranken Komponisten gerechter geworden. Was solls, dem Publikum gefiel diese Wiedergabe durch das „Friedensorchester“ und es bezeugte das denn auch mit langanhaltendem, stürmischem Applaus der schlussendlich in eine stehende Ovation mündete, worauf Barenboim die einzelnen Register, besonders die Bläser, durch entsprechende Gesten besonders hervorhob. So durften diese denn auch einen Sonderapplaus abholen.

Szenenfotos,Sinfoniekonzert 6,West-Eastern Divan Orchestra, Kleine Fotodiashow von Priska Ketterer, Lucerne Festival:

fotogalerien.wordpress.com/2018/08/24/sinfoniekonzert-6-west-eastern-divan-orchestra-daniel-barenboim-elsa-dreisig/

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch

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