Die taiwanesische Pianistin Shih Wei Huang begeisterte in Sursee Foto Edith Budmiger
Besetzung und Programm:
Shih-Wei Huang Solistin am Piano
Ludwig van Beethoven
32 Variationen c-Moll WoO 80
Johannes Brahms Variationen und Fuge über ein Thema von Händel B-Dur op. 24
Franz Liszt
„Rigoletto. Paraphrase de concert“ S 434
Rezension:
Shih Wei beim Konzert in der Klosterkirche
Bereits bei den ersten Takten merkt man, dass Shih-Wei Huang die Musik im Blut liegt. Die sympathische Pianistin spielt mal leise und verträumt, mal haut sie kraftvoll in die Tasten. Das Publikum des Benefizkonzerts wird Zeuge eines abwechslungsreichen Programms, welches die Musikerin voller Emotionen und mit technischer Höchstleistung wiedergibt.
Emotionaler Abend
Shih Wei am Flügel in der Klosterkirche
Eingeleitet wurde das Konzert durch eine kurze Rede von Antoinette Hess-Felber, Präsidentin des Zonta Club Luzern Landschaft. Die Gruppierung setzt sich für die Verbesserung der Lebenssituation von Frauen ein und hat das Benefizkonzert mitorganisiert. Es wird erwähnt, dass die Hälfte der erworbenen Einnahmen an den Club geht, der sie zur Unterstützung von Nachwuchstalenten einsetzen will. Der restliche Betrag erhält Shih-Wei Huang, die grosszügiger Weise auf eine fixe Gage verzichtete. Die Musikerin eröffnete den musikalischen Teil des Konzerts mit einer Widmung an ihre verstorbene Freundin und Mentorin Lucette Achermann-Wüst.
Von Beethoven über Brahms zu Franz Liszt
Shih Wei geniesst den verdienten Applaus beim Klosterkonzert
Durch diese Einleitung ist der Grundstein für einen berührenden Abend gelegt. Zusätzlich unterstützt wird diese Wirkung durch den dramatischen Beginn des Programms mit Beethovens 32 Variationen in c-Moll. In eine ganz andere Stimmung wird das Publikum mit dem beschwingteren zweiten Werk, Variationen und Fugen über ein Thema von Händel des Romantiker Johannes Brahms, versetzt. Einen pompösen Abschluss des gut einstündigen Programms bieten Liszts Rigoletto-Paraphrasen. Huang gelingt es mit ihrem aussergewöhnlichen Talent, die unterschiedlichen Stile der Kompositionen authentisch zu vermitteln und den Werken eine individuelle Note einzuverleiben.
Von Taiwan nach Sursee
Shih Wei mit Mitorganisatorin Edith Budmiger
Shih-Wei Huang spielt bereits seit ihrer Kindheit Klavier und studierte an renommierten Hochschulen auf der ganzen Welt. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und konzertierte mit namhaften internationalen Orchestern. Es ist dementsprechend eine besondere Gelegenheit, sie in Sursees Klosterkirche zu erleben. Der kleine Raum ermöglicht einen familiären Rahmen und eine unbezahlbare Nähe zu der Künstlerin. So hört man jede kleinste musikalische Nuance und erkennt jede Gefühlsregung auf dem Gesicht Huangs. Komplett ohne Noten und meist mit geschlossenen Augen spielt sich die Pianistin scheinbar mühelos durch das anspruchsvolle Programm und begeistert so die zahlreichen Konzertbesucher in der praktisch ausverkauften Klosterkirche. Dass diese einmalige Möglichkeit, eine Weltklassepianistin live zu erleben geschätzt wurde, manifestierte sich in der abschliessenden Standing Ovation, die von der Künstlerin strahlend entgegengenommen wurde.
Zeitreise durchs 19. Jahrhundert mit abschliessendem Sprung in die Gegenwart
Initiant und Mitorganisator Léonard Wüst bedankt sich bei der Künstlerin mit einem Blumenstrauss
Mit den ausgewählten Stücken entführte die Pianistin das Publikum auf ein musikalisches Abenteuer. Besonders die zahlreichen Variationen erfordern eine Diversität der Künstlerin, die sie hervorragend meistert. Nicht nur technisch überwindet sie die höchst anspruchsvollen Stücke, sondern versieht sie zudem mit einer seh- und hörbaren Emotionalität. Nach einem erfolgreichen Konzert, gefolgt von tosendem Applaus, verabschiedet die Künstlerin das Publikum mit einem beeindruckenden Solo-Piano Arrangement der Titelmelodie zu «Pirates of the Caribbean» in die Nacht. Dieser stilbrechende Abschluss begeisterte sowohl Freunde der Klassik als auch Fans der zeitgenössischen Musik.
Trio Shih Wei im Hirschen beim Meet the Artist
Einige Zuhörer zog es im Anschluss weiter zum «Get together, Meet the Artist» im Galeriesaal des Hotel Hirschen, an welchem Shih-Wei Huang, begleitet von Bassist Thomas Ottiger und Schlagzeuger Urs Zimmermann, mit ausgewählten Jazz-Stücken eine ganz andere musikalische Seite zeigte.
Oslo Philharmonic, Leif Ove Andsnes, Klavier, Vasily Petrenko, Dirigent
Richard Strauss
Don Juan. Tondichtung nach Nikolaus Lenau op. 20 (1887–1888)
Edvard Grieg
Konzert für Klavier und Orchester a-moll op. 16 (1868)
Sergej Rachmaninoff
Symphonie Nr. 2 e-moll op. 27 (1906–1907)
Rezension:
Gelungene Ouvertüre
Schönes Blumenarrangement bei Weinzirls
Es gibt so Abende, da stimmt einfach alles. Die sind zwar eher selten, dafür umso schöner, kostbarer und unvergesslicher. Eine Konzerttournee der Oslo Philharmonic zu dessen 100-jährigen Bestehen machte Halt in der österreichischen Metropole für ein Konzert im Wiener Konzerthaus und brachte als Piano Solisten gleich noch ihren Landsmann Life Ove Andsnes mit an die Donau. Dieser, für mich persönlich einer der momentan interessantesten, aber zugleich auch einer der meistunterschätzten Tastenvirtuosen der Gegenwart. Dass dann im Programm gleich auch noch das Klavierkonzert in A Moll von Edvard Grieg gelistet war, steigerte meine Vorfreude grad nochmal. Wenn das alles zudem noch von Vasily Petrenko geleitet wird, steht einem ungetrübten Konzertgenuss nichts mehr im Wege und so fiel es mir auch nicht besonders schwer, die ebenfalls für diesen 16. Oktober gebuchten zwei Karten für Puccinis «Madame Butterfly» an der Wiener Staatsoper in den Kommissionsverkauf zurück zu geben.
Restaurant Weinzirls Innenansicht, die Schmankerln begeistern, optisch und geschmacklich
Davor aber orchestrierte Hermann Weinzirl im gleichnamigen Restaurant im Hause auch sein Team zu Spitzenleistungen. Nach einem äusserst herzlichen Empfang durch den Chef persönlich, genossen wir alsbald ein paar der köstlichen, in kleinen Portionen gereichten, auch visuell sehr anregenden Winzierl Schmankerln, wie gebeizten Lachs, Wildscheinschinken mit Kräutervinaigrette, Steinpilzrisotto, Kartoffel Gnocchi mit Cherrytomatensauce, Rehrücken mit Erdäpfelpuree, auf feinem Wildjus mit Brombeeren oder Filets von der Goldforelle mit ihrer Garniture, abgeschlossen mit einem assortierten Dessertteller.
Weinzirl Schmankerl begeistert, optisch und geschmacklich
Begleitet durch den Gaumenschmaus wurden wir von den freundlichen, motivierten und sehr aufmerksamen Servicemitarbeiter*innen. Gutgelaunt und wohlgenährt aber nicht vollgestopft, dislozierten wir dann in den grossen Konzertsaal, der bis zu 1865 Personen Platz bietet und bis auf ganz wenige, einzelne Plätze vollbesetzt war von einem erwartungsfreudigen Publikum.
Auf Gaumenschmaus folgt Ohrenschmaus
Don Juan, Tondichtung von Richard Straus nach Nikolaus Lenau
Konzertprogrammaushang am Wiener Konzerthaus
Die Oslo Philharmonic, zur Feier ihres 100jährigen Bestehens auf Europatournee, begrüßte sein Wiener Publikum mit Strauss’ „Don Juan“ – der schwungvoll, energisch, aber nie vorlaut, gar herrisch daherkam. Der umwerfend stürmische Beginn markiert zweifellos den Helden der Geschichte. Wild auffahrend, ein Draufgänger, wie auch jeder Dirigent gleich zu Beginn zu spüren bekommt: Sie sind nicht leicht zu bändigen, die ersten Takte des «Don Juan», der in so rasendem Tempo anhebt, als würde er mit einem Streich die komplette Damenwelt in wohlig-prickelnde Ohnmachten stürzen wollen. Das feurige Thema verbreitert sich, gewinnt an Kraft, wird ungeduldig.
Stürmisch kraftvolles Liebeswerben
Wiener Konzerthaus Aussenansicht
Doch plötzlich verliert es sich träumerisch und eine Solo-Violine schwebt über allem: die erste Angebetete betritt die Szene. Das Liebeswerben nimmt seinen Lauf, findet das erstrebte Ziel, und zurück bleibt Ermattung, bevor das nächste Abenteuer losgeht. Diesmal ertönt das Lied des erotischen Opfers in der Oboe. Diese Affäre beginnt ruhiger, doch bald stellt sich auch hier mit mächtigen Hornklängen ein enormes Drängen ein: Der Blechglanz verströmt die unwiderstehliche Kraft des Helden. Die Ermattung folgt auch diesmal, nur stärker. Ein weiteres Mal schwingt er sich auf, doch das Begehren wird wilder, ziellos.
Unbändige Kraft bäumt sich nochmals auf
Wiener Konzerthaus Impression innen
Erneut ergießt sich die unbändige, fast verzweifelt mobilisierte Kraft in vollmundig-üppigem Orchesterglanz, es folgt ein weiterer Aufschwung mit dem Anfangsthema – doch es führt nirgendwo mehr hin: Diese Erlahmung ist die letzte. Der einzelne Ton der Solo-Trompete wird gern als tödlicher Degenstoß interpretiert, denn jetzt verdämmert alles rasch. «Don Juan» ist in jeglicher Hinsicht am Ende. Der leise, wie absterbende Schluss vermittelt sowohl den Tod als auch die mit der Masse an Liebesabenteuern, dem ständigen Suchen, Finden, der Erschöpfung und der Wiederholung dieses Musters einhergehende Auszehrung, den Verfall des Helden. Das Auditorium zeigte sich sichtlich beeindruckt und äusserte dies mit kräftigem, langanhaltendem Applaus.
Norweger mit Norweger und Norweger in Griegs A-Moll-Klavierkonzert
Impression grosser Konzertsaal im Wiener Konzerthaus
Frisch und forsch steigt Chefdirigent Vasily Petrenko in das sehr viel gehörte Klavierkonzert des norwegischen Nationalheiligen Edvard Grieg ein, das die Streicher mit dunklen Untertönen, die Holzbläser mit fein abschattierten Pastelltönen, das Blech edel gerundet angehen. Landsmann Leif Ove Andsnes am Flügel wirkst darin so aufgeräumt und gutgelaunt, wie von ihm gewohnt. Er setzt auf vollgriffige romantische Attacke, sein Fortissimo ist dabei freilich nie plärrend laut, sondern wohl gerundet, er trifft für Grieg die ideale Mitte aus packendem und poetischem Zugriff. Ja, dieser Grieg klingt wie ein nordischer Brahms, mal so gar nicht verniedlicht.
Es gibt sie die feurigen und trotzdem coolen Nordmänner
Ein feuriger cooler Nordländer, ja das gibt’s, wie Andsnes, ein Pianist von meisterhafter Eleganz, Kraft und Einsicht eindrücklich demonstrierte, sehr zur Freude des sachkundigen Auditoriums, das ja in Wien, der Musikstadt schlechthin, bekanntlich sehr verwöhnt, deshalb auch besonders kritisch ist. Der Pianist reißt das Publikum mit entschiedenem Anschlag und einer angenehmen Dosis an Präzision und Klarheit mit sich. Im Adagio rollt dann zwar auch das Orchester einen wunderbar samtenen Klangteppich aus, gesamt gesehen bleibt es aber meist wohltuend zurückhaltend und überlässt dem Solisten die Oberherrschaft.
Ob Staccato oder filigrane Läufe, Leif Ove Andsnes zelebriert beides meisterhaft
Dieser weiss diesen Auslauf weidlich zu nutzen, präzis seine Staccato, feinfühlig die perlenden Läufe liebevoll, streichelt er das Elfenbein unter seinen Fingern, ohne deshalb verweichlicht zu tönen, denn er kann auch sehr energisch, wo vom Komponisten angedacht. Er führt das Orchester durch die anspruchsvolle Partitur, ohne voranzutreiben, immer in Symbiose mit dem nordische Renommierorchester, das von Petrenko äusserst zurückhaltend, mehr begleitet, denn dirigiert wird, so sparsam in der Gestik erlebt man den Russen selten. Auch hier geizte das Publikum nicht mit Applaus und klatschte den Solisten noch ein paarmal auf die Bühne zurück, zu einer stehenden Ovation reichte es dann aber doch nicht.
2. Konzertteil mit der zweiten Symphonie von Rachmaninow
In der abschließenden zweiten Symphonie Rachmaninows kommt es noch zu einigen energischen Momenten, verursacht durch dämonisch wetternde Celli, und vereinzelt gar zu lyrischen Oasen im Adagio. Die Violinen tönen wie eine Kreation aus dem Hause Sprüngli: zartbitter der schmelzende Kern, samtig die Oberfläche. Das Konzert des Oslo Philharmonic im Konzerthaus ist ein orchestrales Großereignis. Denn die Norweger bieten eben viel mehr als handelsüblichen klanglichen Luxus, die Musiker aus der Hauptstadt des Königreichs haben enorm viel echten Charakter.
Der russischen Seele schwelgischerische Hingabe
Leif Ove Andsnes Solist am Piano
Sie sind mit schwelgerischer Hingabe bei der Sache, phrasieren unerhört spannungsdrängend, die Exzellenz ihrer Solisten – welch ein berückend lukullisches Klarinettensolo im Adagio v – wirkt dabei so angenehm unprätentiös und natürlich. Die Bläser lassen sich unabhängig von den Streichern verfolgen, auch die Auffächerung der verschiedenen Streicher-Einsätze ist sehr klar herausgearbeitet. Petrenko bleibt dabei lange sehr streng im Zeitmaß. Erst dort, wo sich die Solotrompete mit drei Achteln Auftakt vom Mezzoforte zum Fortissimo steigert, verzögert der Dirigent – wie von Rachmaninow verlangt – das Tempo: Dreieinhalb Minuten lang hat er vorab dieses Fernziel im Auge. Wenn Weitsicht überhaupt klingen kann, dann so. Auf die Largo-Einleitung folgt ein Allegro moderato. Das Hauptthema soll dabei im ständigen Wechsel von leichter Verzögerung und Rückkehr zum Ausgangstempo gespielt werden.
Trotz Werktreue unverkennbar
Dirigent Vasily Petrenko Foto Mark Mc Nulty
Petrenko und die Oslo Philharmonic bleiben äusserst werktreu, bloss vom vorgeschriebenen Verzögern und Zurückkehren zum Ausgangstempo hört man fast nichts. Nur vom Ehrgeiz, das Allegro moderato in einen möglichst deutlichen Kontrast zur Largo-Einleitung zu setzen, was diese Interpretation aber äusserst spannend macht. Rachmaninows zweite Sinfonie ist am berühmtesten durch ihren dritten Satz, ein Adagio in A-Dur, das Idyll und Elegie in einem ist und dessen Reichtum auch so ein verschwenderisch begabter Melodiker wie Rachmaninow nie wieder überbieten konnte. Fast drei Minuten dauert allein die Vorstellung des Hauptthemas bei Petrenko. Diese Großzügigkeit ist aber auch nötig. Mag die Soloklarinette tontechnisch ein wenig zu sehr in den Vordergrund gerückt sein – sie klingt so schön, dass man sich’s gefallen lässt.
Rachmaninows geniale Intention
Als wäre so ein herrlicher Einfall nicht schon überwältigend genug, intensiviert Rachmaninow die Wirkung seiner Musik noch mit den Mitteln Beethovens und Tschaikowskys: Er verkürzt das Hauptthema und schickt es in einer großen Steigerungssequenz durch verschiedene Tonarten, bis es auf dem Höhepunkt in glückstrahlendes C-Dur mündet. Vasily Petrenko mit dem Oslo Philharmonic Orchestra hat es da etwas eilig, zum Ziel zu kommen, und verschenkt die Hälfte des Glücks, dafür hört man genau, aus welch unzähligen kleinen Zuflüssen der große Strom der Musik sich speist. Zu zeigen, dass Rachmaninow polyphon denkt, dass er quasi kanonisch mit Verkleinerungen und Vergrößerungen seines Themas einen Gesamtklang konstruiert.
Petrenkos Liebe zum Liebe zum Detail, ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren
Das Grosse im Blick, die Details fein herausgearbeitet, eine vortreffliche Umsetzung des Werkes, wie auch das Publikum mit stürmischem Applaus langanhaltend bekräftigte. Ein Applaus, der erst verstarb, als die Protagonisten diesen mit einer Zugabe belohnten, die aber noch nicht mit einer „Standing Ovation“ verdankt wurde. Aber nach der anschliessenden zweiten Zugabe, erhoben sich die begeisterten Zuhörer doch noch und feierten die Musiker. Mein Instinkt, Puccinis „Madame Butterfly“ an der Staatoper zugunsten der Norweger im Konzerthaus links liegen zu lassen, erwies sich also doch als richtig.
Weinzierl, das exquisite Restaurant im Hause, Homepage durch Klick auf Bild erreichbar
Diese Rezension wurde unterstützt vom Restaurant Weinzierl im Wiener Konzerthaus, bestens bedient vor und nach den Konzerten, umsorgt auch in den Pausen.
Produktion und Besetzung: Hessisches Staatsballett Musikalische Leitung GMD Patrick Lange Choreografie Tim Plegge Bühne Frank Philipp Schlössmann Kostüme Judith Adam Licht Tanja Rühl Dramaturgie Karin Dietrich Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Rezension:
Daniel Myers und Ensemble Foto Regina Brocke
Tim Plegge, Direktor und Choreograph des Hessischen Staatsballetts Wiesbaden begeisterte mit einer Neufassung des weltberühmten Balletts einen bis zum letzten Platz besetzten Saal anlässlich der Premiere am 19. Oktober 2019. Man ahnte es bereits beim Eintreten in den Theatersaal, dies würde kein klassischer Nussknacker werden. Auf der Bühne spielte ein Mann in einem riesigen Schrank auf einer Hammondorgel eine jazzige Version von «Stille Nacht». Im Mittelpunkt dieser Neufassung steht auch bei Plegge Marie und der Nussknacker. Die Geschichte beginnt am Weihnachtsabend bei Familie Silberhaus. Die gestressten Eltern (Sayaka Kado und Taulant Shehu) möchten eigentlich den Baum schmücken und den Abend vorbereiten. Aber die völlig überdrehten Kinder Marie (Vanessa Shield) und ihr Bruder Fritz (Jorge Moro Argote) stellen das halbe Haus auf den Kopf, sehr zum Unmut ihrer überforderten Eltern.
Dann nervt noch die Oma mit ihren Nörgeleien
Das Ensemble Foto Regina Brocke
Dann taucht Oma Martha (Masayoshi Katori) viel zu früh auf und nervt zusätzlich mit ihren Nörgeleien. Onkel Leopold (Nicolas Frau) und Tante Cécile (Margaret Howard) ergänzen die Runde mit ihrer pubertierenden Tochter Victoria (Jiyoung Lee) und dann ist da noch der Familienfreund Drosselmeier (Ramon John), eine zwielichtige Figur. Er schenkt Marie einen Nussknacker, Marie ist hin und weg, es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihr und dem Spielzeug, die Geschichte driftet ab in eine Traumwelt. Marie befreit den Nussknacker vom Übergriff der plötzlich auftretenden Ratten und deren Königin Oma Martha und darf mit ihm ins Märchenland reisen. Aber auch dort läuft alles schlussendlich aus dem Ruder und Marie kehrt zurück in ihr normales Leben und den Weihnachtsabend.
Weihnachtsstimmung pur
Masayoshi Katori und Daniel Myers Foto Regina Brocke
Tim Plegge gelingt es, die Geschichte choreografisch so dicht zu erzählen, dass man sich mitten drin findet, sich plötzlich wieder erinnert an das ungeduldige Warten auf die Bescherung am Weihnachtsabend. Man meint, Gespräche zu verfolgen, welche ja lediglich getanzt werden. Und er verzaubert mit märchenhaften Bildern, unterhält mit höchst amüsanten Einlagen und lässt die Weihnachtsstimmung in all ihren Facetten – hellen und dunklen – aufleben.
Vanessa Shield ist eine perfekte Marie, jung, unbeschwert, quirlig, neugierig, voller Staunen und Gutgläubigkeit. Masayoshi Katori begeistert als Oma mit einer ganz eigenen Bewegungssprache, kraftvoll, schräg, schrullig, manchmal aber durchaus auch aufreizend. Ramon John als Drosselmeier hat etwas Elegant-Verruchtes, Schleimig-Schleichendes und bewegt sich mitunter wie ein stolzer Gockel, wenn er seine Arme anwinkelt und seine Rockschösse fliegen. Daniel Myers als Nussknacker entwickelt sich vom steifen, eckigen Spielzeug zum warmherzigen Freund und Begleiter Maries.
Magisches, Gruseliges und Märchenhaftes
Masayoshi Katori_Margaret Howard_Taulant Shehu_Vanessa Shield_Nicolas Frau_Jorge Moro Argote_Jiyoung Lee_Sayaka Kado_Ramon John Foto Regina Brocke
Es passieren magische Dinge auf dieser Bühne. Wenn Marie und der Nussknacker sich anfreunden, wird schon mal ein Pas de Deux sitzend auf einem Schrank getanzt. Gruselig wird’s, wenn Oma Martha plötzlich mit einem langen, dünnen Rattenschwanz über die Bühne schleicht und sich kurz darauf eine Schar Ratten mit geringelten grauen Socken um sie versammeln. Und märchenhaft schön beim Schneeflockenwalzer, wenn sich das Kinderballett unter die Tänzer mischt, alle in diesen fluffig weissen Federkostümen. In immer in neuen Formationen wirbeln sie über die Bühne, während Schneeflocken im Scheinwerferlicht herabrieseln – da träumt man sich in seine Kindheit zurück.
Bereits bei der Pause hatte Tim Plegge alle auf seiner Seite, der Applaus war laut, spontan, langanhaltend.
Im zweiten Teil, im Märchenreich, gehts weiter mit zauberhaften Szenen: Tanzende Papp-Pferde, hüpfende Flugzeuge, die Oma auf Rollerblades, überhaupt tragen sie jetzt plötzlich alle Rollerblades, die ganze Familie locker und aufgekratzt, Onkel und Tante werden zum tanzenden Glamourpaar, ihre zickige Tochter zum Instagram-Star, alles ist bestens in dieser Märchenwelt, bis es plötzlich auch hier kippt. Marie wird zusehends bedrängt und soll zur Puppe gemacht werden. Sie verlässt die Traumwelt und findet sich wieder im familiären Kreis am Weihnachtsabend.
Das Bühnenbild ist schlicht, im Mittelpunkt steht der Schrank, welcher je nachdem Freude oder Grauen bringt. Mal purzeln Puppen aus ihm, mal Ratten, mal ist er überdimensional und bedrohlich, mal fröhlich farbig gepunktet, mal bewegt sich ein Schrankballet über die Bühne, grau in grau, verwirrend für Marie, die sich nicht mehr zurechtfindet.
Musikalisch begleitet wird dieser Nussknacker durch das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung von Patrick Lange. Um die bereits überbekannten Melodien aufzubrechen und die Choreografie entsprechend zu begleiten, hat Tim Plegge die Abfolge der Musik-Nummern teilweise geändert. Und um den Bezug zur Realität besser herzustellen, kommt die Hammond-Orgel zum Zug und verfremdet ab und zu Tschaikowskis Melodien in jazzig-groovige Stücke.
Trotz der dunklen Seiten dieser Geschichte war es alles in allem ein wundervoller, märchenhafter Abend, das Premierenpublikum war hell begeistert und bedankte sich mit viel Applaus, Bravo-Rufen und Standing Ovations.
Ernährungsfachgesellschaft mit Sitz an der Uni Hohenheim betont, dass Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten entgegen des Scheins nicht zunehmen / SNFS Dialog in Bonn
Für Menschen mit echten Unverträglichkeiten und Allergien gegen Nahrungsmittel sind sie ein Segen, doch für alle anderen nur selten die bessere Wahl: „Frei von“-Lebensmittel, etwa ohne Gluten oder ohne Laktose, liegen derzeit voll im Trend. Das birgt Gefahren. Denn wer Lebensmittel mit wertvollen Nährstoffen ohne medizinischen Grund einfach weglasse, verzichte auch auf deren gesundheitlichen Nutzen, warnen die Mitglieder der Ernährungsfachgesellschaft Society of Nutrition and Food Science (SNFS) mit Sitz an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Am 21. Oktober 2019 diskutierten sie im Universitätsclub Bonn über das Thema „Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien – Modekrankheiten oder Stoffwechselstörungen mit zunehmender Bedeutung?“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe „SNFS Dialog“.
Muffins ohne Gluten, Joghurt ohne Laktose – „Frei von“-Lebensmittel gelten bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern heute als besonders gesund. Immer mehr Menschen scheinen von Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien betroffen zu sein, von Glutensensitivität über Laktose- oder Fruktoseintoleranz bis zu Allergien gegen Milcheiweiß, Fisch oder Nüsse.
Doch der Schein trügt: „Die Supermarkt-Regale sind zwar mittlerweile voll mit teuren Spezial-Lebensmitteln, die darauf eingehen, doch Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben in den letzten Jahren nicht zugenommen“, stellt Prof. Dr. Jan Frank fest. Er ist Ernährungswissenschaftler an der Universität Hohenheim und Vorsitzender der SNFS.
Ernährungsthemen und Kochshows seien in den Medien immer präsenter. Das könne eine Ursache für die zunehmende Sensibilisierung der Bevölkerung sein und dafür, dass sich selbstdiagnostizierte Unverträglichkeiten und Allergien heute häufen, vermutet der Experte.
„Frei von“ bedeutet oft Verzicht auf wertvolle Inhaltsstoffe
„Immer mehr Menschen glauben, dass sie bestimmte Nahrungsmittel nicht mehr vertragen. Doch diese Vermutung kann wissenschaftlich nicht bestätigt werden“, bekräftigt auch Dr. Claudia Laupert-Deick, die in Bonn die Praxis für Ernährungstherapie und Beratung leitet.
Doch für Menschen ohne nachgewiesene Allergie oder Intoleranz haben „Frei von“-Produkte in den meisten Fällen nicht nur keinen Mehrwert – im Gegenteil: Zum Beispiel reduziert man gleichzeitig mit dem Gluten, dem Klebereiweiß im Getreidekorn, oft auch den Vollkornanteil am Essen. Doch „Lebensmittel wie Vollkorn- und Milchprodukte haben einen hohen gesundheitlichen Nutzen und werden nur von wenigen Deutschen nicht gut vertragen“, hebt Dr. Laupert-Deick hervor.
Nur etwa 2-5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat eine nachgewiesene Allergie gegen bestimmte Nahrungsmittel oder -inhaltsstoffe, wie zum Beispiel Zöliakie, also Glutenunverträglichkeit. Hier gelte es, sorgfältig zu unterscheiden. Die Expertin betont: „Es erfordert ein differenziertes Vorgehen, Lebensmittelunverträglichkeiten zu diagnostizieren und diese gesundheitsförderlich zu behandeln.“
Sinnvolle Diät setzt sorgfältige Diagnose voraus
Auch Prof. Dr. Jörg Kleine-Tebbe vom Allergie- und Asthmazentrum Westend in Berlin empfiehlt, erst einmal genauer hinzuschauen und verschiedene Dinge nicht zu verwechseln. „Nahrungsmittelallergien bezeichnen immunologisch vermittelte Unverträglichkeitsreaktionen gegen Nahrungsmittel“, erläutert er. Doch dabei müsse man zwischen primären und sekundären Nahrungsmittelallergien unterscheiden.
„Primäre Nahrungsmittelallergien treten eher im Säuglings- und Kleinkindalter gegenüber stabilen Proteinen in Grundnahrungsmitteln auf. Probleme bereiten dann Kuhmilch, Hühnerei, Weizen, Erdnüsse, Baumnüsse oder Fisch“, so der Experte. Doch während sich Reaktionen auf die ersten drei Lebensmittel häufig nach wenigen Jahren zurückbilden, können Reaktionen auf die letzten drei lebenslang bestehen bleiben.
Anders verhalte es sich mit sekundären Nahrungsmittelallergien, erklärt Prof. Dr. Kleine-Tebbe. „Sie entstehen durch ähnliche Proteine in Pollen, etwa Birkenpollen, und pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Kern- und Steinobst, Nüsse, Karotten oder Soja.“ Die Reaktionen seien bei sekundären Nahrungsmittelallergien häufig milder Natur, können aber im Einzelfall auch schwer ausfallen.
„In Europa sind erhebliche Fortschritte bei der Diagnostik und im Umgang mit Nahrungsmittelallergien erzielt worden“, betont Prof. Dr. Kleine- Tebbe. Diese, so seine Empfehlung, sollten Betroffene nutzen. „Leider werden hierzulande untaugliche Methoden bei Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten angeboten, die zur Verwirrung und unberechtigten Diäten bei den Betroffenen beitragen“, warnt er.
Oft vernachlässigt: Psychologische Aspekte bei echter Stoffwechselstörung
Die Menschen, die von einer echten Stoffwechselstörung betroffen sind, befinden sich in einer schwierigen Situation: „Je nach Schweregrad der Nahrungsmittelallergie ist die emotionale und soziale Belastung gerade bei erkrankten Kindern und deren Angehörigen – insbesondere der Mutter – sehr hoch“, betont Prof. Dr. Nanette Ströbele-Benschop vom Institut für Ernährungsmedizin an der Universität Hohenheim.
„In allen Bereichen der Lebensqualität sind Einschränkungen bei den Betroffenen sowie in deren Umfeld zu beobachten – vor allem im Bereich der psychologischen Gesundheit und den sozialen Beziehungen.“
Doch das werde oft unterschätzt und vernachlässigt. „Das Ausmaß der psychologischen Belastung des Einzelnen und dessen Angehörigen durch Nahrungsmittelallergien wird selten von zuständigen Ärzten und dem Fachpersonal thematisiert oder beforscht“, weiß die Expertin. Sie plädiert dafür, gerade auch die psychologischen und sozialen Aspekte stärker in den Fokus zu rücken.
Im Zweifelsfall ein Kompromiss: reduzieren, aber nicht komplett weglassen
Es bleibt jedoch das Problem, dass manche Lebensmittel vielen Menschen ohne echte Stoffwechselstörung Beschwerden verursachen. Auch für sie hat Prof. Dr. Frank einen Rat: „Wer das Gefühl hat, bestimmte Nahrungsmittel nicht gut zu vertragen, sollte diese reduzieren, aber sie im Sinne einer ausgewogenen, vielfältigen Ernährung nicht komplett weglassen.“ Mit diesem Kompromiss könne man gefahrlos ausprobieren, was einem gut bekommt.
HINTERGRUND: Society of Nutrition and Food Science e.V. (SNFS)
Die Society of Nutrition and Food Science e.V. (SNFS) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz an der Universität Hohenheim, der allen Personen, die ein Interesse an den Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften haben, eine gemeinsame Plattform bietet und die Forschung und Ausbildung in diesem Bereich voranbringen möchte. Die SNFS veröffentlicht wertfreie Stellungnahmen zu aktuellen, kontroversen Forschungsergebnissen aus den Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften. Außerdem veranstaltet sie internationale Kongresse, Dialogveranstaltungen, Workshops, Seminare sowie Symposien und ist Herausgeberin einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, NFS Journal (https://www.journals.elsevier.com/nfs-journal).