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Lifestyle

Wiener Philharmoniker | Franz Welser-Möst, KKL Luzern, 5. 9. 2025, besucht von Léonard Wuest

Wiener Philharmoniker Foto Julia Wesely

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

KKL Luzern, der Konzertsaal mit 1898 Sitzplätzen

Franz Welser Möst Foto Lucerne Festival

 

Besetzung und Programm:
Wiener Philharmoniker
Franz Welser-Möst Dirigent
Alban Berg (1885–1935)
Sinfonische Stücke aus der Oper Lulu
Anton Bruckner (1824–1896)
Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Alban Berg Sinfonische Stücke aus der Oper Lulu

Ein Meisterwerk zwischen Oper und Konzertsaal


Alban Bergs „Lulu-Suite“ beziehungsweise die Sinfonischen Stücke aus der Oper „Lulu“ gelten als Brücke zwischen Bühne und Konzertpodium. Geschrieben aus Fragmenten seiner unvollendeten Oper, verdichten sie das dramatische Geschehen in eine konzertante Form. Die Wiener Philharmoniker präsentierten im KKL Luzern unter der Leitung von Franz Welser-Möst eine Aufführung, die die innere Spannung dieses Werks eindrucksvoll spürbar machte.

Franz Welser-Möst – kontrollierte Intensität

 

Alban Berg beim komponieren
Alban Berg beim komponieren

Der Dirigent Franz Welser-Möst entschied sich für eine Lesart, die Klarheit und Struktur in den Vordergrund stellte. Anstelle überbordender Dramatik setzte er auf sorgfältig modellierte Klangarchitektur. Seine Gestik blieb sparsam, aber präzise, und führte das Orchester sicher durch die komplexen Passagen. Die Musik wirkte nie zerfasert, sondern konsequent gebaut, selbst in den eruptiven Ausbrüchen, die Bergs Partitur immer wieder bereithält.

Die Wiener Philharmoniker – klangliche Souveränität

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Die Wiener Philharmoniker zeigten einmal mehr, warum sie als eines der führenden Orchester der Welt gelten. Ihr unverwechselbarer Klang, warm in den Streichern, charaktervoll in den Holzbläsern und majestätisch in den Blechbläsern, verlieh den Sinfonischen Stücken eine fast opernhafte Fülle. Besonders die heiklen Übergänge zwischen lyrischen und expressionistischen Episoden gelangen mit erstklassiger Eleganz und Präzision.

Klangfarben zwischen Erotik und Abgrund


Bergs Musik oszilliert zwischen gläserner Zerbrechlichkeit und expressiver Wucht. Die Wiener Philharmoniker zeichneten diese Spannungsfelder mit größter Differenziertheit nach. Die schimmernden Streicherflächen ließen die zerbrechliche Psyche der Titelfigur aufleuchten, während scharfe Blechattacken und schroffe Schlagwerkakzente den drohenden Abgrund signalisierten. Dieses Wechselspiel erzeugte eine Atmosphäre, die den Zuhörer förmlich in den Bann schlug.

Strenge Form und emotionale Freiheit

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Welser-Möst gelang es, die enorme strukturelle Dichte der Partitur herauszuarbeiten, ohne die emotionale Unmittelbarkeit zu verlieren. Er balancierte die Zwölftontechnik, die Berg meisterhaft mit spätromantischen Klangfarben verbindet, zu einer packenden Synthese. Der Fluss des Werkes wirkte stringent, zugleich aber offen für eruptive Momente, die wie Blitzeinschläge durch die Partitur fuhren. Diese Mischung aus Rationalität und Emotion prägte den Gesamteindruck nachhaltig.

Ein Orchester in Hochform


Die Wiener Philharmoniker präsentierten sich in absoluter Topform. Besonders die Streicher überzeugten durch ihre Fähigkeit, zugleich lyrisch zu singen und mit Schärfe zu attackieren. Die Holzbläser zeichneten mit ihren Soli feinste psychologische Porträts, während das Blech heroische wie auch bedrohliche Klangmassen aufbaute. Das Schlagwerk schließlich setzte präzise Schocks, die den Ausdruck ins Extrem trieben. Zusammen entstand eine musikalische Darstellung von packender Intensität.

Resonanz im Saal

Das Publikum im KKL Luzern reagierte mit großer Aufmerksamkeit und gespannter Stille. Die Aufführung entfaltete eine Sogwirkung, die kaum jemand unberührt ließ. Das Auditorium belohnte die Musiker*innen mit begeistertem Applaus und würdigten damit nicht nur die technische Perfektion, sondern auch die emotionale Wucht dieser Darbietung.

Eine Interpretation von nachhaltiger Wirkung

 

Alban-Berg
Alban-Berg

Bergs „Sinfonische Stücke aus Lulu“ bleiben eine Herausforderung für Orchester wie Publikum – intellektuell, emotional, atmosphärisch. Die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst meisterten diese Aufgabe mit einer Mischung aus Präzision und Leidenschaft. Sie legten Schichten frei, die den Reichtum dieser Musik in all ihren Facetten zeigten: zwischen Erotik und Tragik, zwischen Schönheit und Zerstörung. Ein erster Konzertteil, der sich tief ins Gedächtnis einprägt.

Anton Bruckner Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Ein unvollendetes Vermächtnis

Anton Bruckner beim komponieren
Anton Bruckner beim komponieren

Anton Bruckners Neunte Sinfonie in d-Moll, sein letztes und unvollendet gebliebenes Werk, gilt als musikalisches Testament eines tiefgläubigen Komponisten. Die Wiener Philharmoniker, die Bruckners Klangsprache seit Generationen in ihrer DNA tragen, präsentierten das monumentale Werk im zweiten Konzertteil. Es wurde eine Interpretation, die eindringlich zeigte, wie stark diese Musik zwischen Diesseits und Jenseits vermittelt und wie nah Erhabenheit und Verletzlichkeit beieinander liegen.

Welser-Möst und die Klarheit der Architektur

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Franz Welser-Möst ist kein Dirigent, der Bruckner mit Pathos überfrachtet. Vielmehr legt er Schicht für Schicht frei und vertraut auf die innere Logik der Architektur. Sein Dirigat zeichnete sich durch Zurückhaltung aus, doch gerade diese Selbstverständlichkeit verlieh der Aufführung Größe. Er baute die gewaltigen Steigerungen organisch auf, hielt die Tempi flüssig und erlaubte den musikalischen Linien, sich natürlich zu entfalten. Nichts wirkte aufgesetzt – alles schien Teil eines großen, atmenden Ganzen.

Der erste Satz – düsterer Aufbruch

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Schon im „Feierlich. Misterioso“ öffnete sich eine Welt voller Geheimnisse. Die Wiener Philharmoniker entfalteten eine Tiefe, die zugleich erdverbunden und metaphysisch wirkte. Die Streicher zeichneten dunkle Bögen, das Blech setzte markante Akzente, und die Holzbläser sorgten für farbige Durchlichtungen. Welser-Möst hielt die Spannung in den langen Steigerungen meisterhaft. Die dramatischen Ausbrüche wirkten erschütternd, ohne jemals grob zu werden – vielmehr durchzogen sie den Satz mit einer unausweichlichen Dringlichkeit.

Das Scherzo – Urkraft und Präzision

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Im zweiten Satz, dem „Scherzo. Bewegt, lebhaft“, zeigten die Philharmoniker ihre unvergleichliche Fähigkeit, rohe Energie mit Eleganz zu verbinden. Die rhythmische Prägnanz verlieh der Musik eine fast tänzerische Urkraft, während die Trio-Passage in ihrer überraschenden Leichtigkeit einen scharfen Kontrast bot. Welser-Möst formte klare Konturen, ließ die Musik vorwärtsdrängen und hielt doch stets die Balance. Besonders beeindruckend war die Wucht des Orchesters, die nie in Lautstärke erstickte, was bei Bruckner schon mal passieren könnte, sondern von innerer Glut getragen war.

Das Adagio – Bruckners Abschied

 

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann
Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Der dritte Satz, das „Adagio. Feierlich, langsam“, ist Bruckners ergreifendes Abschiedswort. Hier erreichte die Aufführung ihre größte Intensität. Das Wiener Renommierorchester spielte mit einer Ausdruckstiefe, die den ganzen Saal in ergriffene Stille versetzte. Die weiten Kantilenen der Streicher wirkten wie Gebete, das Blech intonierte mächtige, fast apokalyptische Choralgesten, während die Holzbläser eine fragile, menschliche Wärme einbrachten. Welser-Möst ließ den Satz mit äußerster Geduld wachsen, bis er in jenen erschütternden Höhepunkt mündete, der wie ein Blick ins Jenseits anmutete.

Die Stille danach

 

Anton Bruckner
Anton Bruckner

Nach dem Verklingen des Adagios herrschte eine Stille, die länger dauerte als gewöhnlich. Niemand wagte zu applaudieren, als wolle das Publikum den Raum für das Nachhallen der Musik bewahren, unsicher ob das wirklich des Ende war, ob das Werk auch diesmal unvollendet blieb, also getreu dem diesjährigen Festivalmotto „open end“. Diese Stille war vielleicht der eindrücklichste Moment des Abends: ein gemeinsames Innehalten, das zeigte, wie sehr Bruckners Musik Herz und Geist zugleich berührt. Erst nach einigen Sekunden, als sich Festivalintendant Michael Häfliger und seine Frau Andrea Lötscher, wie immer in Reihe 17 platziert, zu einer „Standing Ovation“ erhoben, setzte der Applaus ein – zögerlich, dann immer stärker, schließlich überwältigend und in eine stehende Ovation aller mündend.

Die Wiener Philharmoniker, einfach Weltklasse

 

Wiener Philharmoniker  Foto  Julia Wesely
Wiener Philharmoniker Foto Julia Wesely

Das Orchester spielte mit einer Homogenität und Intensität, die Bruckners Musik ideal zum Ausdruck brachte. Die legendäre Wärme der Streicher, die majestätische Strahlkraft der Hörner, die Farbpalette der Holzbläser und die wuchtige Präzision des Blechs verschmolzen zu einem Gesamteindruck von seltener Geschlossenheit. Die Musiker waren nicht bloß Interpreten, sondern Mittler einer spirituellen Erfahrung. Man spürte: Dies ist Musik, die zum innersten Selbst spricht.

Welser-Möst als Diener der Musik

Dirigent Franz Welser-Möst
Dirigent Franz Welser-Möst

Franz Welser-Möst verzichtete bewusst auf äußere Effekte. Sein Dirigat war nie auf Selbstdarstellung angelegt, sondern ganz dem Werk verpflichtet. Er vertraute auf die Kraft der Musik und die Kompetenz seines Orchesters. Diese Haltung verlieh der Aufführung Glaubwürdigkeit und Tiefe. Gerade durch die Abwesenheit von theatralischen Gesten konnte die Größe der Neunten unverfälscht wirken. Der Dirigent bewies, dass wahre Autorität in Demut liegt – und in der Fähigkeit, loszulassen.

Diese Interpretation, ein Vermächtnis

 

Bruckners Neunte ist ein Werk, das schwer zu fassen bleibt: unvollendet, geheimnisvoll, monumental und doch zutiefst menschlich. Die Aufführung der Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst zeigte all diese Facetten in exemplarischer Weise. Sie offenbarte das Werk als spirituelles Vermächtnis, das die Zuhörer nicht nur im Moment ergriff, sondern auch lange nachhallte. Es war ein Abend, der eindrücklich zeigte, warum Bruckners Musik gerade heute so notwendig ist – weil sie uns Demut, Größe und Hoffnung zugleich vermittelt.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: Priska Ketterer, Peter Fischli und Patrick Hürlimann  www.lucernefestival.ch

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Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann

Wiener Philharmoniker Konzertfoto von Patrick Hürlimann


Wiener Philharmoniker unter dem Dirigat von Franz Welser Möst Konzertfoto von Patrick Hürlimann

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«räsonanz» – Stifterkonzert Netherlands Radio Philharmonic Orchestra | Netherlands Radio Choir | Karina Canellakis | Liv Redpath | Bertrand Chamayou, KKL Luzern, 27.8.2025, besucht von Léonard Wuest

Pianist Bertrand Chamayou Foto Marco Borggreve

Netherlands Radio Philharmonic Orchestra Foto Lucerne Festival

KKL in Luzern Konzertsaal Galerie

vlnr. Komponistin Unsuk Chin, Dirigentin Karina Cannelakis und Solist Bertrand Chamayou

 

Besetzung un Programm:
Netherlands Radio Philharmonic Orchestra
Netherlands Radio Choir
Karina Canellakis Dirigentin
Liv Redpath Sopran Bertrand Chamayou Klavier
Pierre Boulez (1925–2016)
Le Soleil des eaux für Sopran, Chor und Orchester
Unsuk Chin (*1961)
Klavierkonzert
Robin de Raaff (*1968)
L’Azur. Kantate für gemischten Chor und Orchester nach dem Gedicht L’Azur von Stéphane Mallarmé Uraufführung
Auftragswerk von Lucerne Festival und NTR/ZaterdagMatinee mit Unterstützung der Fondation Pierre Boulez
Pierre Boulez (1925–2016)
Don aus Pli selon pli für Sopran und Orchester

Pierre Boulez’ „Le Soleil des eaux“ Klang gewordene Dichtung

Der eigentlich harmlos klingende Untertitel des Eröffnungsstückes, «Complainte du Lézard amoureux» – die «Klage der verliebten Eidechse» liess ein sanftes Werk vermuten, aber weit gefehlt, das pure Gegenteil,überraschte aber nicht unbedingt, eben ein typischer Boulez.

Da krachts und zischts, nichts für Siversterknallgeschädigte Mitbürger.

Dirigentin Karina Canellakis hat ihr Orchester total im Griff
Dirigentin Karina Canellakis hat ihr Orchester total im Griff

Pierre Boulez’ „Le Soleil des eaux“ ist ein Werk voller klanglicher Abstraktion und expressiver Dichte. In der Aufführung durch das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra und den Netherlands Radio Choir unter Karina Canellakis entsteht ein klangliches Spannungsfeld, das die poetische Vorlage von René Char in fein nuancierter Klangsprache widerspiegelt. Die Musik pulsiert, flimmert und wirkt dabei fast körperlich – eine eindrucksvolle Umsetzung der Natur- und Widerstandssymbolik der Texte.

Sopran zwischen Licht und Klang

Sopranistin und Dirigentin hochkonzentriert
Sopranistin und Dirigentin hochkonzentriert

Liv Redpath gestaltet die anspruchsvolle Sopranpartie mit strahlender Klarheit und technischer Kontrolle. Ihre Stimme schwebt über dem dichten Orchestersatz, ohne sich je darin zu verlieren. Besonders beeindruckend ist ihr Umgang mit den abrupten Ausdruckswechseln, die sie mit Präzision und Ausdruckskraft meistert. Ihre Interpretation wirkt dabei nie kühl – im Gegenteil: Sie verleiht der abstrakten Struktur emotionale Tiefe.

Kollektive Klangdisziplin

Chor und Orchester agieren als ein fein abgestimmter Klangkörper. Canellakis formt das komplexe Werk mit sicherer Hand und großer Transparenz. Die Balance zwischen Struktur und expressiver Freiheit gelingt beeindruckend – eine Aufführung, die Boulez’ Musik in ihrer geistigen Schärfe und klanglichen Schönheit voll zur Geltung bringt.

Unsuk Chins Klavierkonzert, ein klangliches Abenteuer, ein Ritt auf dem Vulkan

Komponistin Unsuk Chin
Komponistin Unsuk Chin

Unsuk Chins Klavierkonzert ist ein Werk voller Überraschungen, klanglicher Experimente und rhythmischer Komplexität. In der Aufführung durch das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra unter Karina Canellakis wird es zu einem fesselnden Hörerlebnis, das sich der Kategorisierung entzieht. Chins Tonsprache ist zugleich verspielt und kontrolliert, voller filigraner Strukturen und eruptiver Momente – und verlangt höchste Präzision von allen Beteiligten.

Bertrand Chamayou: Virtuose Klangarchitektur

Pianist Bertrand Chamayou Foto  Marco Borggreve
Pianist Bertrand Chamayou Foto Marco Borggreve

Bertrand Chamayou meistert die enorme technische und gestalterische Herausforderung mit beeindruckender Klarheit und Präsenz. Sein Spiel ist nie bloß demonstrativ virtuos, sondern immer durchdrungen von musikalischem Verständnis. Besonders in den leisen, fast schwebenden Passagen zeigt Chamayou, wie sensibel er Klangfarben und feine Strukturen zu gestalten weiß. In den schnellen, perkussiven Momenten bleibt er präzise, kantig und doch kontrolliert, wie ich diesen Virtuosen im Mai 2022 auch schon mal in der Hamburger Elbphilharmonie erlebt hatte. Das Werk, geprägt von rhythmischer Energie und komplexer Virtuosität, stellte höchste Anforderungen an den Pianisten – Anforderungen, die Chamayou mit Brillanz und Präzision erfüllte.

Eine aufwühlende Komposition mit einem entfesselten Bertrand Chamayou am Piano der von seinen Mitmusike*innen kongenial begleitet wurde.Entsprechend belohnte das Publikum die Ausführenden mit einer wahren Appauskaskade, die sich noch steigerte, als auch Komponistin Unsuk Chin auf die Bühne kam.

Dirigentin mit Überblick

Dirigentin Karina Canellakis
Dirigentin Karina Canellakis

Karina Canellakis hält das komplexe Geflecht aus Orchester und Solostimme souverän zusammen. Sie formt das Werk mit klarem Sinn für Proportion, Detail und Dynamik. Die Balance zwischen Piano und Orchester gelingt exzellent – beide treten als gleichwertige Partner in einen spannenden Dialog. Eine Interpretation, die Unsuk Chins faszinierende Klangwelt eindrucksvoll erfahrbar macht.

Robin de Raaff Azur. Kantate für gemischten Chor und Orchester nach dem Gedicht von Stéphane Mallarmé, Uraufführung

Ein Klangbild des Himmels

Komponist Robin de Raaff
Komponist Robin de Raaff

Mit „L’Azur“, seiner neuen Kantate für Chor und Orchester, setzt Robin de Raaff ein eindrucksvolles Zeichen zeitgenössischer Vokalmusik. Basierend auf dem gleichnamigen Gedicht von Stéphane Mallarmé, entfaltet sich das Werk als vielschichtige Klanglandschaft zwischen Licht und Leere, Dichtung und Stille. In der Uraufführung durch das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra und den Netherlands Radio Choir unter Karina Canellakis wird diese musikalische Vision klangmächtig und zugleich sensibel zum Leben erweckt.

Chor und Orchester als atmender Organismus

Karina Canellakis führt Chor und Orchester
Karina Canellakis führt Chor und Orchester souverän

Der Netherlands Radio Choir überzeugt mit außergewöhnlicher Klangkultur, stimmlicher Präzision und einer beeindruckenden dynamischen Bandbreite. De Raaff verlangt extreme Konzentration und rhythmische Sicherheit – Anforderungen, die das Ensemble mit großer Souveränität erfüllt. Das Orchester agiert dabei nicht als Begleitung, sondern als gleichwertiger Partner, der das poetische Spannungsfeld zwischen Erde und Himmel hörbar macht.

Karina Canellakis: Klangregisseurin mit Feinsinn

Karina Canellakis führt Chor und Orchester mit sicherer Hand durch dieses herausfordernde Werk. Sie wahrt Struktur und Transparenz, ohne die emotionale Dichte zu glätten. Ihre Interpretation bringt sowohl die klanglichen Kontraste als auch die geheimnisvolle Atmosphäre von Mallarmés Text eindringlich zur Geltung. Eine Uraufführung von großer Ausdruckskraft und Tiefe.

Das Auditorium genoss dieses etwas ungewöhnliche, von Pierre Boulez angeregte Werk und applaudierte auch dessen Schöpfer Robin de Raff, dieser locker im Hawaiihemd, nicht im Frack, auf die Bühne.

Pierre Boulez Don aus Pli selon pli für Sopran und Orchester , Struktur als Klangpoesie

Mit Don, dem Eröffnungssatz aus Pierre Boulez’ groß angelegtem Werk „Pli selon pli“entfaltet sich ein vielschichtiges Klanggewebe, das Sprache, Rhythmus und Klang in ein spannungsgeladenes Verhältnis setzt. In der Aufführung durch die heutige Besetzung nicht bloss intellektuell durchdrungen, sondern lebendig und sinnlich erfahrbar gemacht,die fein ziselierte Struktur Boulez` wird zu atmender Klangpoesie.

Liv Redpath: Stimme als Lichtimpuls

Sopranistin Liv Redpath
Sopranistin Liv Redpath

Sopranistin Liv Redpath meistert die immense Herausforderung mit Klarheit, Präzision und expressiver Kontrolle. Ihre Stimme gleitet durch die hohen Lagen mit Leichtigkeit und Präsenz, dabei stets nuanciert und textverständlich. Die Vokalpartie wird bei ihr nicht zur abstrakten Geste, sondern zum emotionalen Ausdrucksmittel, das sich organisch in das orchestrale Geschehen einfügt. Eine beeindruckend fokussierte Interpretation.

Dirigentin zwischen Analyse und Ausdruck

Dirigentin Karina Canellakis
Dirigentin Karina Canellakis

Karina Canellakis gelingt die Balance zwischen analytischer Durchdringung und klanglicher Sinnlichkeit. Sie führt Orchester und Solistin mit feinem Gespür für Spannung, Struktur und Farbe durch dieses komplexe Werk. Die Klangarchitektur bleibt stets durchhörbar, während die expressive Dichte nie verloren geht. Ein intensives, präzise gestaltetes Klangbild – Boulez in beeindruckender Präsenz.

Für die meisten im Auditorium wars dann wohl doch etwas zu viel des Zeitgenössischen, entsprechend zurückhaltend war denn auch der Schlussapplaus. Barbara Hannigan, die den Solopart im September 2011 unter Pierre Boulez gesungen hatte, saß übrigens auch im Saal.

Was sicher bleibt, ist die grandiose Umsetzung der Ausführenden des, von Unsuk Chin komponierten Klavierkonzertes, bei dem Bertrand Chamayou sämtliche Register seines Könnens am Piano zog.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: Priska Ketterer, Peter Fischli und Patrick Hürlimann  www.lucernefestival.ch

Homepages der andern Kolumnisten:  www.gabrielabucher.ch  www.herberthuber.ch  www.maxthuerig.ch  www.marinellapolli.ch

Netherlands Radio Choir Foto Lucerne Festival

Dirigentin Karina Canellakis hat ihr Orchester im Griff

 

 


 Bertrand Chamayou Solist am Piano

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